Wir brauchen besondere Orte
Ich bin Domfrau Brigitte und begrüße Sie hier in der Votivkapelle. Mein Motiv für die Wahl dieses Ortes als Erzählraum hat mit dem soeben kurz angespielten Stück „Locus iste“ zu tun. Es wurde anlässlich der Einweihung der Votivkapelle 1869 von Anton Bruckner komponiert. Viele kennen „Locus iste“, weil das Stück mittlerweile zum Standardrepertoire vieler Chöre gehört.
Locus iste, a deo factus est (Dieser Ort, ist von Gott geschaffen)
Inestimabile sakramentum (Ein unschätzbares Geheimnis/Zeichen)
Irreprehensibilis est. (Kein Fehl ist an ihm)
Es ist schon ein großartiges Zeugnis für einen Ort, als "von Gott gegeben" bezeichnet zu werden. Ich bin mir sicher, auch Sie kennen Orte, die etwas Himmlisches, etwas Geheimnisvolles, etwas Besonderes an sich haben. Vielleicht auch „nur“ deshalb, weil Sie ein besonderes Ereignis damit verbinden.
Der Bau von Kirchen oder Kapellen ist oft damit begründet, ein Zeichen des Dankes und der Erinnerung zu setzen, weil an diesem Ort etwas geschehen ist, wo Menschen erfahren haben da war Gott mit im Spiel. Das war nicht nur Menschenwerk: Heilung nach schwerer Krankheit, Rückkehr aus dem Krieg, Versöhnung.
Auch der Dom will Zeichen sein. Er wurde nach der Verkündigung des Dogmas „Maria ohne Erbsünde empfangen“ (1854) in Auftrag gegeben und soll Erinnerung an die darin enthaltene Hoffnungsbotschaft sein: Gott durchbricht durch seine Menschwerdung unsere Verstrickungen in Unrecht, Gewalt, Neid, Schuld oder Angst und ermöglicht einen Neuanfang. Maria öffnet sich diesem Wirken Gottes, sagt Ja und lässt sich auf Gottes Weg der Liebe und Menschwerdung ein. Gott wählt die Welt als seinen Wirkort. Unserem Menschsein wohnt also Göttliches inne, das es zu entdecken und zu entfalten gilt.
Ich glaube, dazu brauchen wir Orte, an denen wir Mensch sein können und an denen wir Mensch sein lernen. Vor allem brauchen wir besondere Orte, die uns himmelwärts ausrichten und uns herausheben aus den Mühlen des Alltäglichen.
Denn: wer wir sind, das entscheidet sich nicht nur an dem, was wir tun, was wir können und welchen Namen wir haben. Wer wir sind, hängt auch davon ab, wo wir sind. Welche Orte unsere Orte sind bzw. nicht sind.
Wir brauchen Orte der Alltäglichkeit und Orte, die uns aus der Alltäglichkeit heraustreten lassen und daran erinnern, als Mensch ein Wirkort Gottes in dieser Welt zu sein.
Kirchen gehören für viele zum Alltag und doch tragen sie Besonderes in sich. Sie erinnern Glaubensgeschichten, führen uns in eine „andere Welt“, richten uns himmelwärts auf und können zu Neuanfang wandeln. Aber nicht nur in Kirchen können Himmel und Erde sich berühren, jeder Ort dieser Welt kann zu einem Gott geschenkten Ort, zu einem Wunderort werden, wenn wir Gottes Gegenwart entdecken.
Für mich war das vor ca. 10 Jahren die Linzer Landstraße. Hunderte Sängerinnen und Sänger aus österreichischen Chorgemeinschaften haben „Locus iste“ als Flashmob dargeboten.
Es war an einem Samstag, früher Nachmittag. Die Geschäfte hatten offen, Menschen bevölkerten die Landstraße. Hunderte Chorsänger*innen reihten sich zwischen Taubenmarkt und Mozartkreuzung beidseits der Straßenbahngeleise auf. Ihre Chorleiter*innen standen ihnen gegenüber auf Malerleitern, um gesehen zu werden. Die Straßenbahnen wurden angehalten. Dann:
Es war ein Gänsehautmoment: Die Chöre begannen zu singen, Leute blieben stehen, horchten und überraschend viele sangen mit. Es wurde rundherum still. Es war ein erhebender, heiliger Moment der Unterbrechung. Ich dachte bei mir: Die Botschaft ist angekommen! „Das ist ein von Gott geschenkter Ort.“ Ich weiß nicht, ob sich die Sänger*innen bewusst waren, was sie da den Menschen in ihrer Geschäftigkeit zusagten: Inmitten von Einkauf, Schlendern, Hektik, lockerem Zusammensitzen, zufälligen Begegnungen, Verhandlungen um ein Eis, Freude, über neu Erworbenes, usw. in allem ist Gott gegenwärtig. In jedem Augenblick können Himmel und Erde sich berühren und die Kraft der Liebe und Menschlichkeit wirksam werden.
Das war dann auch so: Die Leute sind noch stehen geblieben, sind ins Gespräch gekommen und vielen war die Freude ins Gesicht geschrieben. Und vielleicht hat der Flashmob Situationen gewandelt und einen Neuanfang ermöglicht – wer weiß?
Ich wünsche Ihnen, dass Ihre Alltagsorte immer wieder einmal zu besonderen Orten werden, die sie himmelwärts ausrichten und die Fülle des Menschseins erleben lassen, wie sie uns von Gott gegeben. Der Dom will sie daran erinnern.