Ein Ohr für die Schöpfung
Predigtvorschlag zum Erntedanksonntag 2016
Autor: Univ.-Prof. Dr. Michael Rosenberger, Linz
Predigt:
Liebe Schwestern und Brüder, liebe Kinder,
der Schriftsteller Frederik Hetmann (1934 – 2006) erzählt folgende Geschichte:
„Eines Tages verließ ein Indianer die Reservation und besuchte einen weißen Mann, mit dem er befreundet war. In einer Stadt zu sein, mit all dem Lärm, den Autos und den vielen Menschen um sich – all dies war ganz neuartig und auch ein wenig verwirrend für den Indianer. Die beiden Männer gingen die Straße entlang, als plötzlich der Indianer seinem Freund auf die Schulter tippte und ruhig sagte: „Bleib einmal stehen. Hörst du auch, was ich höre?" Der weiße Freund des roten Mannes horchte, lächelte und sagte dann: „Alles, was ich höre, ist das Hupen der Autos und das Rattern der Omnibusse. Und dann freilich auch die Stimmen und die Schritte der vielen Menschen. Was hörst du denn?" „Ich höre ganz in der Nähe eine Grille zirpen", antwortete der Indianer. Wieder horchte der weiße Mann. Er schüttelte den Kopf. „Du musst dich täuschen", meinte er dann, „hier gibt es keine Grillen. Und selbst wenn es hier irgendwo eine Grille gäbe, würde man doch ihr Zirpen bei dem Lärm, den die Autos machen, nicht hören." Der Indianer ging ein paar Schritte. Vor einer Hauswand blieb er stehen. Wilder Wein rankte an der Mauer. Er schob die Blätter auseinander, und da – sehr zum Erstaunen des weißen Mannes – saß tatsächlich eine Grille, die laut zirpte. Nun, da der weiße Mann die Grille sehen konnte, fiel auch ihm das Geräusch auf, das sie von sich gab.
Als sie weitergegangen waren, sagte der Weiße nach einer Weile zu seinem Freund, dem Indianer: „Natürlich hast du die Grille hören können. Dein Gehör ist eben besser geschult als meines. Indianer können besser hören als Weiße." Der Indianer lächelte, schüttelte den Kopf und erwiderte: „Da täuschst du dich, mein Freund. Das Gehör eines Indianers ist nicht besser und nicht schlechter als das eines weißen Mannes. Pass auf, ich will es dir beweisen!" Er griff in die Tasche, holte ein 50-Cent-Stück hervor und warf es auf das Pflaster. Es klimperte auf dem Asphalt und die Leute, die mehrere Meter von dem weißen und dem roten Mann entfernt gingen, wurden auf das Geräusch aufmerksam und sahen sich um. Endlich hob einer das Geldstück auf, steckte es ein und ging seines Weges. „Siehst du", sagte der Indianer zu seinem Freund, „das Geräusch, das das 50-Cent-Stück gemacht hat, war nicht lauter als das der Grille, und doch hörten es viele der weißen Männer und drehten sich danach um, während das Geräusch der Grille niemand hörte außer mir. Der Grund dafür liegt nicht darin, dass das Gehör der Indianer besser ist. Der Grund liegt darin, dass wir alle stets das gut hören, worauf wir zu achten gewohnt sind."“
„…dass wir alle stets das gut hören, worauf wir zu achten gewohnt sind.“ Ja, Hören ist ebenso eine Frage der Schulung und Übung wie Lesen und Schreiben. Die Ohren hören eine Menge – aber viel davon kommt nicht im Gehirn an, weil dieses auf ganz bestimmte Geräusche trainiert ist. Aus den vielen Geräuschen filtert es das aus, worauf es zu achten geschult ist. Fragen wir uns also: Worauf schulen wir unser Gehör? Und fragen wir uns das heute am Erntedanksonntag exakt im Zusammenhang mit der Herstellung, der Verarbeitung und dem Verzehr von Lebensmitteln.
1) Die mögliche Vielfalt der Geräusche im Kontext der Ernährung
Was hört der moderne Landwirt, wenn er seinen Acker bestellt? Schalldicht abgeschlossen sitzt er in der Kabine seines Traktors, einen Kopfhörer aufgesetzt, über den er Musik oder Nachrichten hört. Was er oft nicht hört: Das Rauschen des Windes in den Halmen des Getreides und den Blättern des Maises; das vielstimmige Singen der Vögel und das Schreien eines Tieres im Feld; das Heranziehen eines Gewitters, das ein leiser Donner von Ferne andeutet.
Und was hört der Koch oder die Köchin während des Kochens? Dasselbe wie der Landwirt – ein Radioprogramm? Oder vielleicht doch das rhythmische Klopfen und Reiben des Messers auf dem Brettchen beim Schneiden von Gemüse, das trockene Ratschen beim Reiben von Käse, das sanfte Blubbern kochenden Wassers, den lauten Plopp beim Entkorken einer Weinflasche oder das Knirschen der Kaffeebohnen beim Mahlen des Kaffees?
Was schließlich hören Essende während der Mahlzeit? Das laute Krachen einer knackigen Brotrinde oder von Chips? Das Schlürfen eines guten Gläschens Wein und das Klingen beim Anstoßen mit den Gläsern? Das Klappern des Bestecks? Das Knirschen, wenn etwas Hartes von den Zähnen zermahlen wird? Studien zeigen, dass Menschen leichter erkennen, was sie essen, wenn sie dabei die typischen Kaugeräusche hören können.
Im Zusammenhang mit der Ernährung ein Ohr für die Schöpfung haben bedeutet also, sehr vielfältige Geräusche wahrzunehmen. Wir essen und trinken mit den Ohren. Der Genuss steigt ebenso wie die Unterscheidungsfähigkeit, wenn wir bei der Mahlzeit ganz Ohr sind. Aber sind wir im Sinne der Geschichte von dem Indianer und seinem Freund dafür eigentlich geschult? Haben wir die nötige Achtsamkeit für diese Geräusche?
2) Jesus öffnet unsere Ohren
In den beiden Schrifttexten, die wir gehört haben, werden wir jedenfalls gemahnt, aufmerksam hinzuhören. „Höre, Israel!“ So beginnt der berühmte Text aus dem Buch Deuteronomium, den jeder Jude auswendig kann und Tag für Tag bei vielen Gelegenheiten spricht: Beim Aufstehen am Morgen und beim Schlafengehen am Abend, beim Sitzen und Gehen, beim Betreten oder Verlassen eines Hauses. „Höre, Israel!“ Das meint ganz besonders: Denk an die Weinberge und Ölbäume, die Äcker und Wiesen, mit denen du reich beschenkt bist, um dich zu ernähren. Höre, Israel, „wenn du isst und satt wirst“. Schnell lässt uns die Sattheit unseres Wohlstands das Hören vergessen. Doch für Menschen, die an den Schöpfer glauben, soll das nicht sein. Papst Franziskus schreibt in seiner Enzyklika „Laudato si“: „Die Schöpfung zu betrachten bedeutet für den Gläubigen auch, eine Botschaft zu hören, eine paradoxe und lautlose Stimme wahrzunehmen.“ (LS 851)
Und an anderer Stelle fragt der Papst: „Die Natur ist voll von Worten der Liebe. Doch wie können wir sie hören mitten im ständigen Lärm, in der fortdauernden und begierigen Zerstreuung oder im Kult der äußeren Erscheinung?“ (LS 225) Die Welt ist so laut, so lärmend geworden, dass wir die entscheidenden Geräusche der Schöpfung nicht mehr hören, die uns von der Liebe des Schöpfers erzählen wollen. Ja, wir gleichen oft dem Taubstummen, dem Jesus im heutigen Evangelium begegnet. Wie ihm muss er auch uns die Finger in die Ohren legen, damit sie sich wieder öffnen und fähig werden zu hören. Wie zu ihm muss er auch zu uns sagen: Effata!, das heißt: Öffne dich!
1Hier zitiert Franziskus seinen Vorgänger Johannes Paul II., Generalaudienz (26. Januar 2000), 5: L’Osservatore Romano (dt.) Jg. 30, Nr. 5 (4. Februar 2000), S. 2.
3) Die Nahrung hören lernen
Liebe Schwestern und Brüder, Erntedank feiern heißt auch, ein Ohr für die Schöpfung zu haben. Ein Ohr für ihre unmittelbaren Geräusche. Und ein Ohr für alles, was sie uns durch ihre Geräusche hindurch erzählen möchte: Von der Güte des Schöpfers; von ihrer Zerbrechlichkeit und Schutzbedürftigkeit; von unserer Angewiesenheit und Abhängigkeit; von unserem Beschenktsein. – Worauf sind unsere Ohren trainiert zu hören? Ist es die klingende Münze wie in der Geschichte des Indianers? Oder ist es das Zirpen der Grille im Blattwerk des wilden Weins? Ich wünsche uns, dass wir gerade beim Zubereiten und Verzehr unserer Nahrung „ganz Ohr sind“. Es tut uns gut. Und der Schöpfung auch.
Liedvorschläge:
GL 433,2 Schweige und höre
GL 468 Gott gab uns Atem (bes. 2. Strophe: Gott gab uns Ohren)
Gebet zur Segnung der Erntegaben oder auch an einer anderen Stelle des Gottesdienstes:
Gott, unser Vater,
du sorgst für deine Geschöpfe.
Menschen, Tieren und Pflanzen schenkst du Nahrung und Lebensraum im Überfluss.
Wir danken dir für die Ernte des Jahres
in ihrer unendlichen Vielfalt und ihrem unerschöpflichen Reichtum.
Nähre und stärke uns mit dem, was auf Wiesen und Feldern, Almen und Bergen
und in Gärten und Weinbergen gewachsen ist.
Lass uns allezeit dankbar sein vor dir, unserem Schöpfer.
Gib, dass wir allezeit ein Ohr für deine Schöpfung haben und mit allen Geschöpfen teilen.
Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn.
Anmerkung: Das Motto des Erntedanksonntags wurde übernommen von der OeKU, der ökumenischen Arbeitsstelle Kirchen und Umwelt in der Schweiz. Bei dieser Stelle können unter www.oeku.ch auch weitere Materialien zum Thema und für die Schöpfungszeit vom 1.9. bis zum 4.10. bezogen werden.
Die OeKU schreibt zum diesjährigen Motto:
Der Hörsinn und damit das Hören spielt in den abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam eine zentrale Rolle. Denn diese Religionen haben ihren Ursprung im Wort Gottes, das den Menschen offenbart worden ist. Sogar die Schöpfung selbst geschieht durch das Wort ( Gen 1 ; Joh 1,1 ). In der ersten Schöpfungsgeschichte gestaltet Gott die Welt durch sein Wort – Gott spricht und die Erde gehorcht, bringt Pflanzen, Wasserlebewesen, Vögel, Landtiere und den Menschen hervor. Hören und Gehorsam werden im Einklang gesehen – doch der Mensch ist eigenwillig. Er hört und gehorcht doch nicht (Jes 6,8). Er nimmt die Klage der Armen und das Seufzen der Schöpfung (Röm 8,22) oft nicht wahr.
Die SchöpfungsZeit bietet Kirchgemeinden und Pfarreien die Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf die Klänge der Schöpfung zu richten: Vogel- und Froschkonzert, Wind und Wetter, Worte und Musik. Es gilt aber auch, den Lärm wahrzunehmen, der die Schöpfung beeinträchtigt, oder den Wert der Stille zu entdecken – in der Meditation und in der Natur. Auch Sinneswahrnehmungen, die uns Menschen nicht zugänglich sind, werden thematisiert. Fledermäuse, Katzen und Hunde beispielsweise nehmen mit ihren Ohren mehr wahr als wir Menschen.