Mehr Menschenwürde statt mehr Markt
Die Arbeitslosenversicherung wieder mehr auf menschliche Bedürfnisse statt auf markttheoretische Mechanismen auszurichten muss ebenso Ziel der anstehenden Reform sein, wie die Arbeitslosigkeit tatsächlich auf ein unvermeidbares Ausmaß zu reduzieren. Das darf nicht durch die Verschlechterung der Bedingungen für Betroffene geschehen, sondern durch neue Ansätze und konkrete Veränderungen, die Erwerbsarbeit für alle ermöglichen. Denn Arbeit zu haben, hat neben den finanziellen und sozialversicherungsrechtlichen auch viele positive sozialpsychologische Aspekte, wie eingebunden zu sein, gebraucht zu werden, Wertschätzung zu erfahren, persönliche Identität aufrechtzuhalten, aktiv zu sein oder Kontakt mit ArbeitskollegInnen zu haben.
Gut, dass durch korrekte Arbeitsvermittlung so viele Menschen einen neuen Arbeitsplatz finden, aber einige Problemfelder müssen benannt werden.
Unsere 15 Reformvorschläge zur Arbeitslosenversicherung:
1. Menschenbild
2. Stärkung der Solidarität
3. Arbeitslosengeld erhöhen
4. Zuverdienstmöglichkeit erhalten
5. Sanktionen abschaffen
6. Zumutbarkeitsbestimmungen anpassen
7. Aufzahlung aus Sozialhilfe zu Bedingungen der Arbeitslosenversicherung
8. Pensionsversicherungsbeiträge
9. Interessensvertretung
10. Rechtsanspruch auf Aus- und Weiterbildung
11. Beschäftigungsprogramm
12. Jugendliche
13. Mehr aktive Arbeitsmarktpolitik
14. Arbeitsplätze schaffen
15. Verteilung der Erwerbsarbeit
1. Menschenbild
Das Menschenbild in der politischen und öffentlichen Diskussion muss geändert werden. Den betroffenen Menschen wieder eine Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, muss das Ziel sein. Existenzängste und die Aussichtslosigkeit, nach der Krise wieder rasch eine Stelle zu bekommen, plagen viele arbeitslose Menschen. Mit zunehmender Dauer sinkt der Selbstwert. Schamgefühl, Rückzugstendenzen und psychosomatische Beschwerden nehmen zu.
Unterstellte Unwilligkeit führt dazu, dass viele Maßnahmen wie degressives Arbeitslosengeld, Zuverdienst abschaffen, Zumutbarkeitsbestimmungen verschärfen etc. mit dem Ziel einer Erhöhung des Drucks auf Arbeitssuchende diskutiert werden. Freiwillig verbleiben in der Arbeitslosigkeit kaum arbeitslose Menschen (max. 3-5%). Der Zugang zum Arbeitslosengeld wird restriktiv gehandhabt, statt menschenwürdige Existenzsicherung zu ermöglichen.
Sanktionen setzen Menschen enorm unter Druck und sind eine drakonische Bestrafung mit dem Ziel, dass arbeitslose Menschen irgendeine Arbeit (schlechte Bezahlung, schlechte Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten, Wegstrecken, …) annehmen.
Erfahrungen von Diskriminierung und Beschämung belasten die Psyche extrem. Oft werden Menschen stigmatisiert oder als Schuldige an ihrer Lage dargestellt, dabei haben wir gar nicht für jede/n Arbeitssuchende/n einen Arbeitsplatz. Arbeitslosigkeit darf nicht bloß als individuelles Versagen dargestellt werden, es ist ein gesamtgesellschaftliches (von Ratingagenturen im Neoliberalismus indizierte) Problem und primär Verantwortung der Politik.
2. Stärkung der Solidarität
In der jetzigen Krise hat der österreichische Sozialstaat einiges abgefedert, aber mit bereits vorher bekannten Schwächen z. B. zu niedriges Arbeitslosengeld und zu niedrige Sozialhilfe.
Es braucht eine Stärkung der Solidarität in unserer Gesellschaft als Fundament für einen tragfähigen Sozialstaat. Das von ArbeitnehmerInnen und Unternehmen gemeinsam finanzierte Sozialversicherungssystem muss wieder stärker auf Unterstützung und Leistungen in tatsächlich existenzsichernder Höhe, statt auf Sanktionen, ausgerichtet werden.
3. Arbeitslosengeld erhöhen
Das Arbeitslosengeld ist eine Versicherungsleistung und dient zur Existenzsicherung (Lebensstandardsicherung). Es mit ist 55% des letzten Nettoeinkommens in Österreich im internationalen Vergleich sehr niedrig. Das mittlere Arbeitslosengeld beträgt monatlich unter 1.000,- Euro, bei Frauen deutlich weniger. Das schützt nicht ausreichend vor Armut, besonders Teilzeitkräfte aus der Gastronomie oder dem Einzelhandel, die aufgrund des geringen Einkommens auch nur ein sehr geringes Arbeitslosengeld bekommen. Menschen mit niedrigerem Einkommen werden überdurchschnittlich oft arbeitslos und leben zu 2/3 in armutsgefährdeten Haushalten.
Das Arbeitslosengeld soll dauerhaft auf mindestens 70% des Letztbezuges angehoben werden. Warum nicht das Arbeitslosengeld, insbesondere für niedrige Einkommen, auf die Höhe des Kurzarbeitseinkommens anheben? Auch volkswirtschaftlich wäre es sinnvoll, das Arbeitslosengeld samt Notstandshilfe zu erhöhen, weil diese zur Gänze wieder ausgegeben werden. Das Arbeitslosengeld ist mit einer Obergrenze gedeckelt, d. h. eine Erhöhung nützt ausschließlich den niedrigen Einkommensschichten.
Ein degressiver Verlauf über die Dauer der Arbeitslosigkeit löst nicht die Probleme bei der Arbeitssuche sondern erhöht den Druck und die Armutsgefährdung.
4. Zuverdienstmöglichkeit erhalten
Mit der Zuverdienstmöglichkeit durch eine geringfügige Beschäftigung in der Zeit der Arbeitslosigkeit halten arbeitslose Menschen den Kontakt zur Arbeitswelt mit allen positiven Aspekten. Manche wollen sich orientieren und etwas ausprobieren, so besteht die Chance, dass aus einer geringfügigen Beschäftigung ein richtiges Dienstverhältnis entsteht. Insbesondere langzeitarbeitslose Menschen würden durch eine Streichung noch schlechtere Wiedereingliederungschancen haben.
Aufgrund des niedrigen Arbeitslosengeldes ist die Zuverdienstmöglichkeit, besonders wegen der gestiegenen Wohnkosten und bei Unterhaltspflichten, wichtig, um damit den Lebensunterhalt zu finanzieren.
5. Sanktionen abschaffen
Die strengen Zumutbarkeitsbestimmungen für arbeitslose Menschen in Kombination mit den Sanktionen bewirken, dass der Druck bei längerer Arbeitslosigkeit enorm steigt. Das Arbeitslosengeld kann für 6 oder 8 Wochen auf Null gestrichen werden, wenn ein Termin beim AMS versäumt oder eine als zumutbar eingestufte Stelle nicht angenommen wird. Das ist eine existenzbedrohende und menschenunwürdige Bestrafung, die auch eine Delogierung zur Folge haben kann. Im Vergleich mit einer Geldstrafe bei einer gerichtlichen Verurteilung entspräche sie einer unbedingten Strafe von 42 bzw. 56 Tagsätzen. Daher sind die Sanktionen mit einer völligen Sperre des Bezuges abzuschaffen.
Andererseits wäre eine Kostenbeteiligung (Sanktion) für Betriebe zu überlegen, die eine Einstellzusage nicht einhalten, die Beschäftigte für ein bestimmte Zeit in die Arbeitslosigkeit schicken und danach wieder einstellen oder nur pro forma offene Stellen melden, um am Arbeitsmarkt nur nach den Besten zu suchen.
6. Zumutbarkeitsbestimmungen anpassen
Arbeitslose Menschen nicht vorschnell unter Druck setzen, sondern ihnen ermöglichen, ihre Fähigkeiten zu entdecken und eine dazu passende Arbeitsstelle zu finden, wäre eine wichtige Umstellung. Mit angepasster Unterstützung oder Beratung können mehr, vor allem langzeitarbeitslose Menschen den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt schaffen.
Zumutbar kann nur eine Stelle sein, für die sich Arbeitssuchende selber entscheiden und die existenzsicherndes Einkommen bietet. Die tägliche Wegstrecke oder gar ein Wohnortwechsel muss mit den persönlichen Lebensumständen vereinbar sein. Es ist unzumutbar, eine leistbare geförderte Wohnung für eine neuen Arbeitsstelle aufgeben zu müssen. Es braucht somit auch Zumutbarkeitsbestimmungen für Arbeitsplätze.
7. Aufzahlung aus Sozialhilfe zu Bedingungen der Arbeitslosenversicherung
Bei niedrigem Arbeitslosengeld müssen für eine Aufzahlung aus der Sozialhilfe (früher Mindestsicherung) deutlich schlechtere Bedingungen in Kauf genommen werden, z. B. muss vorher vorhandenes Vermögen verwertet werden und das gesamte Haushaltseinkommen wird zur Berechnung herangezogen. Stundungen von Zahlungen (Mieten, Kredite, etc.) in der Krise helfen wenig, da diese ja als Rucksack bestehen bleiben. Daher braucht es Zuschüsse in ausreichender Höhe für armutsgefährdete Menschen.
Die Sozialhilfe muss daher über den Armutsgefährdungsbetrag angehoben werden, und bei einer Aufzahlung sollen die gleichen Bedingungen wie beim Arbeitslosengeldbezug gelten.
8. Pensionsversicherungsbeiträge
Längere Arbeitslosigkeit führt automatisch zu einer geringeren Pensionshöhe, die Altersarmut wird aufgrund der lebenslangen Durchrechnung steigen. Statt Anwartszeiten sollen bei Arbeitslosigkeit Beitragszeiten entstehen.
Daher sollen bei Arbeitslosigkeit die Pensionsversicherungsbeiträge auf die, vom letzten Einkommen berechnete Höhe, aufgestockt werden.
9. Interessensvertretung
Politische Entscheidungen werden getroffen, ohne dass die Betroffenen gehört werden. Es braucht ein gesichertes Mitspracherecht für arbeitslose Menschen bei den sie betreffenden politischen Entscheidungen.
Zusätzlich zur Interessensvertretung in AK und ÖGB ist die Errichtung einer unabhängigen Sozial- oder Arbeitslosenanwaltschaft sinnvoll.
10. Rechtsanspruch auf Aus- und Weiterbildung
Fast 50% aller arbeitslos Gemeldeten haben keine Berufsausbildung und können mit dem gestiegenen Qualifikationsniveau nicht mithalten.
Eine Arbeitsstiftung, die mit ausreichend finanziellen Mitteln ausgestattet ist, soll allen Arbeitssuchenden ermöglichen, Berufsabschlüsse nachzuholen und mit Weiterbildungen ihre beruflichen Kenntnisse zu aktualisieren. Die individuellen Lernkompetenzen müssen berücksichtigt und gefördert werden.
Ein Rechtsanspruch auf kostenfreie Aus- und Weiterbildung kann für alle arbeitslosen Menschen ihre Arbeitsplatzchancen steigern.
11. Beschäftigungsprogramm
Aufgrund verschiedener Handikaps, und sei es nur das Alter, werden Bewerbungen vieler arbeitsuchender Menschen aussortiert. Geförderte Beschäftigung z. B. für ältere Langzeitarbeitslose in öffentlichen oder gemeinnützigen Einrichtungen muss zur Gänze finanziert werden. Es ist besser, Beschäftigung zu finanzieren als Arbeitslosigkeit.
Werden von einer 100%igen Lohnkostenförderung alle zurückfließenden Steuern und Abgaben sowie das zu zahlende Arbeitslosengeld abgezogen, verbleiben Nettokosten von etwa 5,- Euro je Arbeitsstunde oder nur etwa 25%. Eine Jobgarantie und ein Förderprogramm für die gesamten Lohnkosten sind notwendig und gesamtwirtschaftlich sinnvoll.
12. Jugendliche
Das Anforderungsniveau von Betrieben für die Aufnahme von Lehrlingen ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Daher haben junge Menschen mit schlechteren Schulzeugnissen oder nicht perfektem Lebenslauf deutlich geringere Chancen in Auswahlverfahren zu bestehen, auch wenn nun wieder mehr offene Lehrstellen beim AMS gemeldet sind. Daher braucht es für alle jungen Menschen bis 25 Jahre einen garantierten Ausbildungsplatz.
Die Corona-Krise hat erhebliche Folgen für die psychische Gesundheit, insbesondere für ausgrenzungsgefährdete Jugendliche. Persönliche Engpässe oder belastende familiäre Situationen erzeugen vielschichtige Problemlagen, welche sie alleine kaum bewältigen können. Es braucht daher mehr Betreuungsplätze mit professioneller Unterstützung für den Arbeitswelteinstieg.
13. Mehr aktive Arbeitsmarktpolitik
Besonders langzeitarbeitslose, geringqualifizierte oder zugezogene Menschen brauchen ausführliche und individuelle Beratung und Unterstützung bei der Arbeitssuche oder einen existenzsichernden Arbeitsplatz in gemeinnützigen, sozialökonomischen oder partizipativ organisierten Betrieben. Die dabei eingesetzten Fördermittel fließen innerhalb weniger Jahre wieder als Einnahmen an den Staat zurück, belegen zahlreiche SROI – Social Return On Investment Berechnungen.
14. Arbeitsplätze schaffen
Auch wenn viele offene Stellen gemeldet sind, gibt es doch nicht für jede/n Arbeitssuchende/n einen passenden Arbeitsplatz. Daher braucht es ein öffentliches Investitionsprogramm zur Schaffung neuer sozial und ökologisch nachhaltiger Arbeitsplätze z. B. in der Gebäudesanierung oder mehr Mittel für zusätzliche und gute Arbeitsplätze in der Pflege.
Andere Formen der Existenzsicherung neben der Erwerbsarbeit sollen als gesellschaftspolitische Zielsetzung ebenso diskutiert werden wie eine grundsätzliche Dekommodifizierung (Warencharakter) der Arbeit.
15. Verteilung der Erwerbsarbeit
Niemand ist gerne von Sozialleistungen abhängig, denn jeder Mensch möchte sein Leben unabhängig davon gestalten können. Da es bei weitem nicht für jede/n Arbeitssuchende/n einen passenden Arbeitsplatz gibt, ist eine bessere Verteilung der Erwerbsarbeit etwa durch die Verlängerung der Altersteilzeit, durch attraktivere Bildungskarenz oder durch eine generelle Arbeitszeitverkürzung erforderlich, damit alle Menschen selbstständig ihre Existenz sichern können.