Bin ich selber schuld?

Arbeitslosigkeit trifft jeden Menschen persönlich und wird immer noch als individuelles Problem betrachtet. Doch Hiobsbotschaften von geplanten Werkschließungen und Massenkündigungen lassen anderes vermuten. Ab einer gewissen Prozentzahl an Arbeitslosigkeit kann sich eine Gesellschaft nicht mehr auf individuelle Schuldzuweisungen beschränken. Irgendwann wird klar, dass die üblichen Erklärungsmuster nicht mehr funktionieren, weder in Bezug auf Ursachenforschung noch in Hinblick auf Lösungsversuche. Die „Relativierung und Korrektur überzogener individualistischer Deutungsschemata wären … entscheidende Beiträge, um Stigmatisierungen und Diskriminierungen arbeitsloser Menschen zu verhindern, die … allzu leichtfertig für ihr Schicksal selber verantwortlich gemacht werden“ schreibt Ansgar Kreutzer. Doch wie von diesen Schemata abkommen? Es scheint, als wäre der individuelle Ansatz tief in unserer Gesellschaft verwurzelt. Die Idee, dass „jeder Mensch seines Glückes Schmied“ sein kann, setzt sich auch nach Einsetzen der Arbeitslosigkeit fort.
Stigmatisierung – Diskriminierung
Das Problem nun individuell in den Griff zu bekommen, durch Schulungen und Kurse individuelle Mängel auszugleichen und durch unzählige Bewerbungen einen neuen Arbeitsplatz zu ergattern, scheint derzeit die einzig empfohlene Strategie für arbeitslose Menschen zu sein.
Schlimmer als die zugeschriebene Schuld wirkt die eigene Schulderfahrung. Das Gefühl, selbst verantwortlich für die eigene Situation zu sein, vielleicht nicht schuldig an der Ursache, doch schuldig in dem Sinne, keinen neuen Arbeitsplatz zu finden, wirkt stark auf das Selbstwertgefühl. Man fühlt sich schuldig, nicht genügend ausgebildet zu sein, nicht genügend mobil zu sein, nicht genügend jung zu sein, nicht genügend alt zu sein, nicht genügend frei-von-Betreuungspflichten zu sein, etc… Vielfältig sind die Gründe, Schuld zu empfinden. Diese innere Schuldzuschreibung veranlasst zum Rückzug von Gesellschaft und Gemeinschaft. Der Rückzug geschieht als Fluchtversuch ins sichere Private, wo die scheinbaren Mängel erträglich werden. Schuldzuschreibungen von außen geschehen täglich; den Spruch: „wer wirklich arbeiten will, der findet auch eine Arbeit“ hört man nach wie vor. Sogar gut gemeinte Ratschläge von Freunden und Verwandten wirken wie ein Vorwurf, nicht genügend kompromissbereit zu sein, nicht genügend hinzunehmen für einen neuen Job und verschlimmern die Situation noch mehr. Mit jedem zusätzlichen Tag in der Arbeitslosigkeit vergrößert sich das Gefühl, nicht dazuzugehören sondern ausgeschlossen zu sein. Die individuelle Schuldzuweisung hebelt die Gemeinschaft genau dort aus, wo sie eigentlich tragen sollte.
Angesichts dessen, dass nicht mehr geleugnet werden kann, dass die Ursache von Arbeitslosigkeit immer ein Mangel an zur Verfügung stehenden Arbeitsplätzen ist, wird es Zeit, sich mit dem Thema „Schuld“ differenzierter auseinander zu setzen. Wohin führt uns eine individuelle Schuldzuweisung und wollen wir in so einer Gesellschaft leben? Gibt es eine kollektive Schuld und somit auch eine kollektive Verantwortung gegenüber jenen, die keinen Arbeitsplatz ergattern können? Wenn es der Mangel an Arbeitsplätzen ist, warum müssen wir uns dann weiter in ständiger Konkurrenz um die begehrte Mangelware gegenseitig übertrumpfen?
Wohlwollende Strukturen
Oder wollen wir die Arbeit, die da ist, neu aufteilen – so, dass mehr Menschen die Teilhabe ermöglicht wird. Wollen wir jenen Menschen, die trotz allem keinen Platz finden, auf Augenhöhe begegnen und sie als Teil der Gemeinschaft sehen? Wir brauchen eine wohlwollende Politik, die den Menschen den Rücken stärkt, statt sie zu entwürdigen. Wir brauchen wohlwollende Strukturen, die im Dienste der Menschen stehen, statt sie zu bevormunden. Wir brauchen ein wohlwollendes Miteinander und wohlwollende Menschen, die sich für andere verantwortlich fühlen, statt sie zu verunsichern. Im Individuellen brauchen wir die Fähigkeit und im Strukturellen die Möglichkeit, uns als Menschen in Achtung begegnen zu können. Sodass alle gestärkt stehen und bleiben können, inmitten und als Teil der Gesellschaft.
Mag.a Lydia Seemayer, Assistentin
Bischöfliche Arbeitslosenstiftung