In Österreich sind 1,3 Millionen Menschen, also 15 Prozent der Bevölkerung, armutsgefährdet, 201.000 Menschen (2,3 Prozent) können sich keinen europäischen Mindestlebensstandard leisten. Das geht aus dem von Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) am Dienstagabend in Wien präsentierten Sozialbericht 2024 hervor. Für Caritas-Präsidentin Nora Tödtling-Musenbichler zeigen diese Zahlen, dass es für eine "Zukunft ohne Armut" eine "echte Sozialstaatsreform" anstelle vieler Einzelmaßnahmen benötige. Besonderer Fokus müsse auf die Bekämpfung der Frauenarmut und die Unterstützung von Alleinerziehenden gelegt werden, zeigte sich Tödtling-Musenbichler bei einem Podiumsgespräch im Rahmen der Sozialbericht-Präsentation im Wiener Museumsquartier überzeugt.
Über 70.000 Menschen hätten österreichweit im vergangenen Jahr eine Sozialberatungsstelle der Caritas aufgesucht, berichtete die Caritas-Präsidentin. Ein Großteil davon seien Frauen, "die nicht wissen, wie sie am Ende des Monats noch etwas zahlen können, beziehungsweise wie sie ihre Wohnungen heizen", erzählte Tödtling-Musenbichler aus dem Alltag der Beratungsarbeit durch die Hilfsorganisation. Als weiteren Punkt, den es dringend zu beheben gelte, benannte die Caritas-Chefin die Kinderarmut, die Österreich nach wie vor Realität sei. Alles, was Kinder absichere und Kinderarmut verhindere, verhindere zukünftige Armut, zeigte sich Tödtling-Musenbichler überzeugt.
Als wichtigste Maßnahme, um Armut zu verhindern, benannte die Caritas-Präsidentin einmal mehr die Reform der Mindestsicherung als "letztes soziales Auffangnetz". So müsse dringend eine bundeseinheitliche Regelung geschaffen werden, derzeit gebe es gravierende Unterschiede zwischen den Bundesländern: "Wir brauchen eine Mindestsicherung, die wirklich umfassend ist. Dann können wir Armut verhindern."
Die Caritas-Präsidentin plädierte besonders in Wahlkampfzeiten genau auf die Worte von Politikerinnen und Politikern zu achten. Es würden sehr unterschiedliche Bilder und Erzählungen bei Armut gebraucht. So stimme etwa das Klischee, dass nach Österreich kommende Ausländer sofort Sozialhilfe bekämen, "einfach nicht". Tödtling-Musenbichler appelliert in diesem Zusammenhang an die Politik, sich zu hinterfragen: "Welche Bilder haben wir im Kopf, wie reden wir über Menschen?", das sei entscheidend. Zu der Debatte um Sachleistungen und eine Bezahlkarte für geflüchtete Menschen plädierte die Caritas-Präsidentin dafür, den Menschen "selbst verantwortliche Entscheidungen zuzutrauen", auch in Fragen des Geldes, hierbei gehe es "letztlich auch ein Stück weit um Würde", so Tödtling-Musenbichler.
Schenk: Bildung ist wichtigster Faktor
Bildung als wichtigsten Faktor, um Armut nachhaltig zu verändern, benannte Diakonie-Armutsexperte Martin Schenk im Rahmen der Expertendiskussion. "Wir brauchen ein System, das es schafft, dass Kinder nicht aufgrund des Geldbeutels der Eltern zurückgelassen werden", so Schenk. Weiters brauche es bessere Wege für den Übergang von Bildung und Ausbildung zur Arbeit. Hier müssten beide Bereiche zusammen gedacht werden. "Es gibt ja die einen, die reden über die Schlösser und die anderen über die Schlüssel, aber niemand denkt, wo die Dinge zusammenkommen", so der Sprecher der Armutskonferenz.
Schenk erinnerte an die Forderungen von Näherinnen, die vor über hundert Jahren bessere Bedingungen für ihre Arbeit protestierten. Mit dem Ruf "gebt uns Brot, aber gebt uns die Rosen dazu", hätten sie klargemacht, dass finanzielle Absicherung das eine sei, aber auch Anerkennung und Wertschätzung genauso wichtig sei. Eine autoritäre oder paternalistische Sozialpolitik trenne diese zwei Bereiche, aber, "dann wird das nichts mit der Armutsbekämpfung", so der Experte.
Minister Rauch mit "5-Punkte-Plan"
Sozialminister Rauch, der nach den Nationalratswahlen im Herbst keiner Regierung mehr angehören will, stellte im Zuge der Präsentation des Sozialberichts einen "5-Punkte-Plan für künftige sozialpolitische Reformen" vor, wie die "Austria Presse Agentur" berichtete. So solle etwa das bereits angekündigte Modell für eine Kindergrundsicherung ausgearbeitet werden. Die bestehenden Beihilfen, Zuschüsse und Steuerermäßigungen seien "kompliziert und zu wenig treffsicher". Außerdem brauche es eine "Mindestsicherung, die ihren Namen verdient". Die 2019 unter Türkis-Blau eingeführte Sozialhilfe sei nämlich der Grund, wieso Menschen in Österreich nicht genug zu essen hätten oder ihre Wohnung nicht ordentlich heizen könnten.
Ebenso in den Plänen des Ministers enthalten sind ein dauerhaftes öffentliches Wohnbauprogramm samt Mietpreisdeckel für leistbares Wohnen, bessere Bildungschancen und ein Ausbau persönlicher Assistenz für Menschen mit Behinderung und gleicher Zugang zu "bester" medizinischer Versorgung unabhängig vom Einkommen, die Gesundheitsreform biete hier Chancen.
Der Armutsbericht zeige, dass sich die Zahlen zur Armut seit 2018 letztlich kaum verändert hätten, resümierten die an den Studien für den Sozialbericht beteiligten Experten, die Strukturmaßnahmen gegen Armut einforderten. Armutsbetroffene hätten mehr Gesundheitsprobleme, geringere Bildung und weniger soziale Teilhabe, armutsbetroffene Kinder könnten seltener an Schulfahrten teilnehmen und keine Freunde nach Hause einladen, schilderte eine der Studienautorinnen, Nadja Lamei von der Statistik Austria, die Situation der Betroffenen.
Jeder Siebente armutsgefährdet
In Österreich ist den Daten zufolge jeder Siebente armutsgefährdet, hat also weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung. Rund zwei Prozent sind "erheblich materiell und sozial benachteiligt", können es sich also etwa nicht leisten, unerwartete Ausgaben in der Höhe von 1.300 Euro aus eigenen Mitteln zu decken oder ihre Wohnung angemessen zu heizen. Auch Erwerbstätigkeit schützt nicht immer vor Armut: Acht Prozent der Erwerbstätigen sind "working poor", haben also trotz Arbeit ein niedriges Haushaltseinkommen.
Um Armut in Österreich zu verhindern, schlägt eine Gruppe von Experten von Wirtschaftsuni, Uni Wien, Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) und der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA) im Bericht garantierte Mindestlebensstandards für alle Menschen in Österreich vor, durch ein Grundrecht etwa auf Wohnen, Gesundheit oder Bildung. Auf EU-Ebene und international sei der Diskurs dazu schon relativ weit, so WU-Forscherin Karin Heitzmann, diese Debatte sollte auch in Österreich geführt werden.
Außerdem müsste allen Menschen im erwerbsfähigen Alter der Zugang zur Erwerbsarbeit ermöglicht werden. Als Maßnahmen nennen die Forscher u.a. eine Arbeitsplatzgarantie für langzeitarbeitslose Menschen, eine Beseitigung prekärer Erwerbsarbeit etwa durch bessere gesetzliche Regulierungen für Leiharbeit und Subunternehmertum sowie Maßnahmen gegen Scheinselbstständigkeit oder die Anhebung niedriger KV-Mindestlöhne.
Wichtig sei zusätzlich der gleiche Zugang zu sozialer Infrastruktur wie Bildung, Gesundheit und Wohnbau. Derzeit würden Kinder aus armutsbetroffenen Familien etwa Infrastruktur wie Kindergärten, Horte oder Ganztagsschulen deutlich seltener nutzen, obwohl gerade hier ein chancengleicher Zugang viel gegen die Vererbung von Armut bewirken könne. Ein wichtiger Hebel wäre zudem, bei Frauen anzusetzen, ist laut Forba-Forscherin Ingrid Mairhuber doch "die finanzielle Abhängigkeit von Frauen im konservativen Sozialstaat österreichischer Prägung festgelegt". Notwendig wären etwa Transferleistungen über der Armutsgefährdungsschwelle, die als Bezugsgröße das Individuum und nicht den Haushalt haben.
Natürlich seien noch Baustellen offen, räumte Minister Rauch ein, der auf Krisen der vergangenen Jahre von der Coronapandemie bis zur Teuerung infolge des Ukraine-Kriegs verwies. Österreich habe diese Zeit aber "einigermaßen gut bewältigt", dafür habe die Regierung auch "jede Menge Geld in die Hand genommen". Nach der kurzfristigen Krisenhilfe müsse man aber nun die Strukturen hinter der Armut angehen.