Termine statt.
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Liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
Im heurigen Jahr feiern wir den 1700. Geburtstag des Heiligen Martin. Wie nur bei wenigen Heiligen hat sich an seinem Gedenktag – dem 11. November – ein Brauchtum entwickelt, das Kindern wie Erwachsenen gleichermaßen gefällt. Umzüge, Kerzen, Laternen, Lieder, Kipferl, Lebkuchen – all das gehört zum Flair dieses Festes. Im Mittelpunkt jedoch steht eine Erzählung, die alles andere als „heimelig“, „süß“ oder „gefällig“ ist. Es ist die Erzählung vom Teilen eines Mantels, von einem Teilen, das im Umfeld des Akteurs sogar Kopfschütteln, Spott und Häme ausgelöst hat. Interessanterweise wird dieser Teil der Mantel-Legende oft überhört oder ausgespart, und so kommen nur die beeindruckende Beziehung zwischen Martin und dem Bettler in den Blick, nicht aber die Reaktionen des Umfelds darauf. Oder anders ausgedrückt: In Zeiten der Kälte riskierte Martin Mitmenschlichkeit – und nahm dabei für sein Tun Ablehnung, Unverständnis und sogar eine Bestrafung in Kauf. Doch wer war Martin eigentlich? Was wissen wir von ihm? Und was hat es mit seinem Mantel-Teilen auf sich? Worin liegt das Besondere seines Tuns – gerade auch für unsere Zeit?
Biographisches
Martin wurde um 316/317 in Sabaria geboren, der Hauptstadt der römischen Provinz Pannonien. Heute heißt diese Stadt Szombathely und liegt in Ungarn. Aufgewachsen ist Martin jedoch in Pavia, nicht weit von Mailand entfernt. Als Sohn eines Offiziers war für ihn die militärische Laufbahn vorgegeben, und er trat mit 15 Jahren in die römische Armee ein. Hier diente er in einer Elite-Einheit, der berittenen kaiserlichen Leibgarde. Bereits nach kurzer Dienstzeit wurde er Offizier. Aber Martin – dessen lateinischer Name Martinus auf den römischen Kriegsgott Mars hinweist – sah für sich einen anderen Weg als das Soldatentum. Fasziniert von der Botschaft und dem Weg des Jesus von Nazaret machte er sich auf Spurensuche, um in den Christus-Glauben tiefer einzudringen. Er bereitete sich als junger Mann jahrelang auf die Taufe vor. Und je mehr er in das Christentum eintauchte, umso mehr begannen sich wohl sein Denken, sein Tun und sein Fühlen zu verändern. Das hatte auch für sein berufliches Leben Konsequenzen: Er suchte nach einer Lebensweise, die mit dem Glauben an Christus vereinbar war. Vor einer Schlacht gegen anrückende Germanen in der Nähe von Worms verweigerte Martinus als Offizier des römischen Besatzungsheeres den Dienst. Der Austritt aus dem römischen Heer wurde ihm lange verweigert. Erst im Jahr 356 – mit 40 Jahren und nach Ableistung seiner 25-jährigen Dienstzeit – wurde er schließlich von Kaiser Julian aus dem Heeresdienst entlassen. Sechzehn Jahre später, am 4. Juli 372 erhielt Martin die Bischofsweihe. Trotz dieses hohen Amtes lebte er weiterhin bescheiden und wohnte lieber – wie es seinem mönchischen Ideal entsprach – in den Holzhütten vor der Stadtmauer als in der Stadt Tours selbst. Am 8. November 397 starb Martin im Alter von 81 Jahren. Er wurde am 11. November in Tours unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt.
Die Erzählung vom Mantel-Teilen – und ihre Botschaft für heute
Die Begebenheit mit dem Mantel-Teilen trug sich wohl um das Jahr 334 zu. Ab diesem Jahr war Martin als Reiter der Kaiserlichen Garde in Amiens stationiert. An einem kalten Wintertag begegnete hier der Gardist am Stadttor einem armen und unbekleideten Mann. Es wird erzählt, dass niemand diesem frierenden Bettler helfen wollte. Alle schauten weg. Alleine Martin ließ sich – obwohl äußerlich „gepanzert“ – berühren. Er fühlte mit und wandte sein Gesicht nicht ab. Damals trugen die Soldaten über ihrer Ausrüstung einen gut schützenden Mantel. Da Martin außer diesem Mantel nichts bei sich hatte, was er geben konnte, zerschnitt er ihn mit dem Schwert in zwei Teile und gab eine Hälfte dem Armen.
Herausgefordert zwischen Mitgefühl und Gleichgültigkeit
Was in der Geschichte von Martin, einem wahrhaft europäischen Heiligen, in verdichteter und beeindruckender Form begegnet, hat bis heute Bedeutung. Denn hier zeigen sich zwei Lebensweisen, zwei Arten des Menschseins, zwei Optionen und Herausforderungen, zwischen denen wir immer wieder zu wählen haben: zwischen Mitgefühl und Gleichgültigkeit. Nicht zu übersehen ist gegenwärtig – trotz des bewundernswerten humanitären Engagements vieler Menschen – eine „Entfremdung vom Mitgefühl“, ja bisweilen sogar ein „Verlust des Mitgefühls“ (A. Gruen) auf gesellschaftlicher wie politischer Ebene: insbesondere gegenüber jenen, die ihre Heimat, ihren Besitz und ihre Zukunftsträume verloren haben. Sogar die Helfenden müssen sich immer öfter in Frage stellen, kritisieren und sogar ausspotten lassen. Nicht selten werden sie als „naive Gutmenschen“ belächelt. Wie „kurzsichtig“ und fatal diese abwertende Einschätzung ist, zeigt die Entwicklungsgeschichte unserer Zivilisation. So sieht der berühmte Schweizer Psychoanalytiker Arno Gruen gerade im Mitgefühl die Grundvoraussetzung für seelische Gesundheit und gelingendes Leben. Da das Mitgefühl „die in uns eingebaute Schranke zum Unmenschlichen“ ist, ist es als solches zugleich auch Fundament unserer Zivilisation und Demokratie. Wenn dieses Fundament erodiert und ausgehöhlt, lächerlich gemacht und in Frage gestellt wird, dann verengt und verhärtet sich das eigene Leben. Ebenso kippt die Gesellschaft in eine bedrohliche Schieflage, weg vom Humanen und Solidarischen, hin zum Engherzigen und Egoistischen. Nachdenkliche Worte für diese Entwicklung hat jüngst Papst Franziskus im Rahmen des letzten Weltgebetstreffens in Assisi gefunden. Mit Blick auf die Situation der Leidenden, Schwachen, Heimatlosen und Armen mitten unter uns sagte er (am 20.9.2016): „Wer hört ihnen zu? Wer kümmert sich darum, ihnen zu antworten? Zu oft begegnen sie dem betäubenden Schweigen der Gleichgültigkeit, dem Egoismus derer, die sich belästigt fühlen, der Kälte derer, die ihren Hilfeschrei mit jener Mühelosigkeit abstellen, mit der sie den Fernsehkanal umschalten.“
Ein sanfter Rebell
Deshalb soll uns am Ehrentag des heiligen Martin der Blick auf diesen Menschen Mut machen. Denn in Martin begegnet uns ein Mensch, der stark genug war, Schwäche für die Menschen zu zeigen – inmitten eines Umfeldes, das gewohnt war, von oben herab auf die scheinbar Machtlosen zu blicken. In Martin blitzt eine Persönlichkeit auf, die kreativ und couragiert das ihr Mögliche mit Augenmaß tut, ohne sich hinter dem Satz zu verstecken: was kann denn ein einzelner schon ausrichten. In Martin zeigt sich ein Zugang zum Leben, der sich in seiner Orientierung am Wohl des Nächsten nicht einengen ließ – insbesondere nicht durch den Zeitgeist, das Poltern der Mächtigen und den Beifall der Menge. Ja, in Martin entdecken wir eine Person, die gerade nicht ärmer wird, weil sie sich in die Haut eines anderen versetzt hat, sondern dadurch an Profil, an Weite, an Zufriedenheit und Wärme gewinnt.
Die entscheidende Quelle für Empathie
Was aber machte Martin so menschlich, was befähigte ihn zum Mitgefühl und zum helfenden Tun? Das, was Martins Denken, Fühlen und Tun bestimmte, war die Botschaft des Jesus von Nazaret. An Jesus konnte man es deutlich sehen: Wo Gott – der befreiende und aufrichtende, wohlwollende und lebensfreundliche „Ich-bin-da“ – im eigenen Denken, Fühlen und Tun ankommen kann, da erlebt der Mensch eine „Ent-Krümmung“ (W. Kirchschläger). Als von Gott Bejahter kann er andere bejahen. Als von Gott mit Respekt und Achtung Angesehener kann er anderen Ansehen geben. Als einer, der erfährt, dass Gottes „Ich-bin-da“ wirklich gilt – gerade in dornigen Zeiten und wenn es brennt – kann er es selbst wagen, „Ich-bin-da“ zu sagen. Jesus befreit also Menschen aus dem Panzer der Angst, aus der Logik des Verdachts und aus der Lähmung durch Gleichgültigkeit. Er weitet ihren Blick. Er öffnet ihr Herz. Er macht ihnen Mut, angeregt durch Gott – dem menschenfreundlichen „Ich-bin-da“ – selbst füreinander da zu sein. Diese Anteil nehmende und ganz praktische Menschlichkeit ist Jesus so wichtig, dass er sich selbst mit den Schwächsten und Geringsten identifiziert, gleichsam in deren Haut schlüpft: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40) Einen Tag nach der großherzigen Tat Martins offenbart sich ihm Jesus im Traum daher in einer besonderen Gestalt. Er zeigt sich dem Römer nicht als prachtvoller „All-Herrscher“, sondern als Bettler von Amiens, eingehüllt in die wärmende Hälfte des ihm so großherzig überlassenen Mantels.
Naiver Gutmensch?
Martin wählte einen Weg und eine Lebensweise, die durch ihre humane Ausrichtung Kritik und Widerstand hervorrufen musste. Denn in einer Gesellschaft, in der die Armen und Kranken an den Rand gedrängt wurden, in der es mehr um das Zeigen von Macht, Einfluss und Härte geht, wirkte eine Praxis, die die „Schwachen und Geringen“ in die Mitte stellt, komisch, seltsam, anstößig, ja sogar verdächtig. In den Augen der (damaligen?) Welt musste ein Mann, der sich mit einem frierenden Habenichts solidarisiert, lächerlich erscheinen – lächerlich wie der kümmerliche Rest, der vom einstigen Soldatenmantel übriggeblieben ist. Und so verwundert es nicht, dass uns die Martinserzählung vom Spott der Umherstehenden berichtet. Ganz anders wird freilich das Urteil jener ausfallen, die mit den Augen der Menschlichkeit auf Martin blicken: Nur die, die wissen, welche Stärke es erfordert, Schwäche zu zeigen, können im halben Mantel ein Zeichen menschlicher Größe sehen, die alles andere als lächerlich ist.
Was schadet wirklich?
Ich würde mir angesichts der Herausforderungen unserer Zeit wünschen, dass wir – trotz medialen, gesellschaftlichen und politischen Gegenwindes – auch so wie Martin zu handeln versuchen: inspiriert, einfühlsam, couragiert und von der Angst befreit, etwas zu verlieren oder zu kurz zu kommen, wenn man teilt. Denn Mitgefühl und Barmherzigkeit tun letztlich allen Beteiligten gut. Es sind vielmehr die Mauern und Zäune, die Engherzigkeit und der pauschale Verdacht, Härte und die Verweigerung von Solidarität, die auf die Gesellschaft selbst und das Klima darin zurückwirken. Dass Martin übrigens nur den halben Mantel gegeben hat (jenen privaten Anteil an dieser Ausrüstung, über den er wohl frei verfügen konnte), alles andere aber weiterhin in gewohnter Weise verwendete, wird von seinen Spöttern gerne übersehen. Oder anders gesagt: Martin teilte großzügig, aber dennoch mit Augenmaß – und konnte ganz gut mit dem Übriggebliebenen weiterleben. Er musste weder frieren, noch hungern oder Durst leiden. An Martins Handeln wird auch ersichtlich, dass Teilen Mut und mitunter die Bereitschaft zum Konflikt braucht. Denn Martin riskierte als Offizier der römischen Armee nicht nur Spott und Häme, sondern wahrscheinlich auch eine Bestrafung. Das gepflegte Aussehen der „Uniform“ war maßgeblicher Bestandteil des Drills und der Disziplin. Und Martin hatte mit seinem großmütigen Teilen des Mantels ganz offensichtlich dagegen verstoßen.
Gefährliche Erinnerung
Somit ist das Martinsfest kein nostalgisches „Ritter-Spiel“ mit „Kerzerl-Umzug“. Vielmehr erinnert dieser Festtag an einen Mann, der sich solidarisch zeigt und dafür sogar bereit ist, persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Martin lässt die Not eines Menschen an sich heran und scheut nicht davor zurück, einen Teil seiner Ausrüstung zu verwenden, um dem Bettler die vorenthaltene „Mindestsicherung“ im Ansatz zu kompensieren. Ob der Bettler ein Christ, ein Anders-Gläubiger oder ein Heide war, spielt übrigens keine Rolle. Und Martin hat gezeigt, dass Hilfe und Augenmaß, dass Mitgefühl und Sinn für das Machbare, dass Großzügigkeit und verantwortungsvolles Handeln gut miteinander einhergehen. Ob das jene verstehen, die sich neuerdings als VerteidigerInnen des christlichen Abendlandes sehen – und dabei das Christentum zu einem Instrument der Abgrenzung und der Ausgrenzung umformen: gerade gegenüber jenen, die (dem Bettler gleich) unsere Hilfe dringend brauchen? Beendet sollen die heutigen Predigtgedanken mit einem Gedicht von Lothar Zenetti werden. Zenettis „Mut-Gedicht“ spiegelt für mich die Geisteshaltung Martins besonders schön wider. Lassen wir uns davon – gerade in Zeiten der Kälte – zu Menschenfreundlichkeit und Großmut inspirieren, auch wenn wir dafür gegebenenfalls Unverständnis, Spott und Häme einstecke müssen.
Was keiner wagt, das sollt ihr wagen
was keiner sagt, das sagt heraus
was keiner denkt, das wagt zu denken
was keiner anfängt, das führt aus
Wenn keiner ja sagt, sollt ihr‘s sagen
wenn keiner nein sagt, sagt doch nein
wenn alle zweifeln, wagt zu glauben
wenn alle mittun, steht allein
Wo alle loben, habt Bedenken
wo alle spotten, spottet nicht
wo alle geizen, wagt zu schenken
wo alles dunkel ist, macht Licht.
(Lothar Zenetti)