Donnerstag 26. Dezember 2024

Rahel weint um ihre Kinder

Sozialpredigt
zum Tag der Unschuldigen Kinder, Lesejahr C
Autorin: Dr. Maria Prieler-Woldan

Rahel weint um ihre Kinder

 

Lesung: 1 Joh 1,5 -2,2 

Lesung (alternativ): Jer 31,15-17 

Evangelium: Mt 2,13-18 

 

​​Einführung  

​Rund um Weihnachten geht es in der Liturgie um das Kind, das göttliche Kind, das als Retter, als Messias, als Friedensfürst in die Welt kommt. Nicht alle können oder wollen das erkennen. Das Licht kommt in die Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht ergriffen, so der Johannesprolog. Die Welt, oder viele in ihr, haben nicht begriffen, was das bedeutet; haben die Chance nicht ergriffen, sich ins Licht zu stellen. Die Mächtigen dieser Welt sehen sich jedenfalls bedroht, wenn Licht in ihre dunklen Machenschaften kommt, wenn ihr Herrschaftsanspruch infrage gestellt wird. – Das ist der Hintergrund für den sogenannten Kindermord von Bethlehem, dem wir heute in den liturgischen Texten nachgehen.  

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​Predigt 

​Die Erzählung vom Kindermord in Bethlehem ist eine Legende. Und doch entspricht sie der Wahrheit über die Erfahrungen vieler Menschen im Land des Herodes. Herodes, König von des Kaisers Gnaden, das heißt in diesem Fall der Supermacht Rom, muss jede Konkurrenz sozusagen im Keim ersticken. Eine ganze Generation von Kindern (und deren Eltern) zahlt den Preis. Dass einer davonkommt, in diesem Fall das jüdische Kind Jesus, ist nur die große Ausnahme und wird direktem göttlichen Wirken zugeschrieben. Der Preis dieses Überlebens: Die ganze Familie des kleinen Kindes muss flüchten, die Heimat verlassen, auf Jahre in der Fremde leben. Sie müssen leben mit der Ungewissheit und dem Warten, ob und wann das Morden aufhört, sich die politischen Verhältnisse daheim wieder verbessern und sie sicher in ihr Heimatland zurückkehren können. Das kann Jahre dauern, überhaupt unmöglich werden, und die einfachen Leute sind dem völlig ausgeliefert.

 

​So klingt also hinter der Legende von damals schon für heute Aktuelles an. Ich möchte mich jedoch erst den biblischen Texten zuwenden.  

​Schon das Erste Testament kennt das Motiv der bedrohten Kinder. Die Hebräerfamilien, die in Ägypten Zwangsarbeit leisten, bekommen zu viele Kinder, so befindet der Pharao. Die Hebammen müssen nach seinem Befehl dafür sorgen, dass nicht so viele Hebräerkinder auf die Welt kommen. Doch Pua und Schifra entziehen sich dem geschickt – nachzulesen im Buch Exodus, Kapitel 1. Aber dann sollen alle hebräischen neugeborenen Buben im Nil ertränkt werden. Der kleine Moses wird in einem Binsenkörbchen auf dem Fluss ausgesetzt – und wunderbar gerettet.

 

​Nicht alle werden gerettet, viele kommen um. Im Matthäus-Evangelium wird gesagt, dass sich mit der Gewalttat des Herodes wiederholt, was schon vom Propheten Jeremia erzählt worden ist: In Rama ist ein großes Weinen und Klagen zu hören, Rahel ist untröstlich und klagt um ihre Kinder. Rama ist (vgl. Jer 40,1) im 6. Jahrhundert v. Chr. der Sammelplatz der Menschen, die nach Assyrien verschleppt werden, viele davon werden auch umgebracht. In der Prophetie Jeremias weint die Stammmutter Rahel, die selbst ein Kind verloren hat, auf diesem Platz der Zerstörung, sie ist untröstlich und klagt über das Leiden ihres Volkes, besonders über die toten Kinder. 

 

​Rahels Klage ist auch zur Zeit der Niederschrift des Matthäus-Evangeliums zu hören. Das ist um etwa 80 n. Chr., jedenfalls nach dem Ende des römisch-jüdischen Krieges und der Zerstörung von Jerusalem 70 n. Chr.. Die schon Jahrzehnte dauernde römische Kolonialherrschaft hat im jüdischen Volk Aufstände erzeugt, die in einem vierjährigen Krieg in den Jahren 66 bis 70 n. Chr. schließlich brutal niedergeschlagen werden. Das Land wird verwüstet, der Tempel zerstört, Frauen werden vergewaltigt und Kinder ermordet, Menschen müssen flüchten, werden versklavt und verschleppt, bis nach Rom. Rahel als Ur-Mutter ist wieder untröstlich, sie klagt und weint.

 

​Zweitausend Jahre später ist diese Klage nach wie vor aktuell, wenn wir an die heutigen Orte kriegerischer Auseinandersetzungen denken, sei es in der Ukraine und Russland, sei es in Israel und Palästina. Aus letzterem, dem Heiligen Land, stammen die Erfahrungsberichte von beiden Seiten, die noch vor dem Überfall der Hamas auf Israel im Oktober 2023 und den folgenden Vergeltungsschlägen Israels im Gaza-Streifen gesammelt wurden.

 

​Der Israeli Abraham Bar-Am, geboren 1933 in Tel Aviv, erzählt:   

​Von klein auf sah ich Kriege. Ich selbst kämpfte im Unabhängigkeitskrieg, im Suez-Krieg, im Sechs-Tage-Krieg, im Jom-Kippur-Krieg und in vielen weiteren Einsätzen. Mein Sohn kämpfte. Mein Enkel kämpfte. Er liegt verwundet im Krankenhaus. …  

 

​Sein Landsmann Jitzchak Feller, geboren 1941 in Jerusalem, schildert:  

​In jedem Krieg fielen Menschen, die ich kannte: Jemand der mit mir auf die Schule ging, mit mir bei den Pfadfindern oder in der Armee war, der mit mir studierte oder arbeitete. Ein Vater verliert seinen Sohn im Krieg. Was soll ich sagen?... Ich bin da sehr unbeholfen.  … Irgendwann habe ich gesehen, wie es meine Tochter macht. … Ich sage nichts. Ich umarme die Angehörigen jetzt einfach.  

Die Palästinenserin Amelie Dschaqaman, geboren 1922 in Bethlehem, erzählt die Geschichte ihrer Familie:  

​Meine Mutter kam während der osmanischen Besatzung auf die Welt. Ich wurde während der englischen Besatzung geboren, meine Kinder während der jordanischen, deren Kinder während der israelischen. Es gibt immer jemanden, der dieses Land will, aber nie jemanden, der uns will. Ist das keine Tragödie?  

Die Palästinenserin Maha Schouman, geboren 1958 in Tulkarem, hat im Jänner 2003 ihren Sohn verloren. Er ging trotz einer Ausgangssperre in der Altstadt von Nablus auf die Straße und wurde von einem israelischen Soldaten erschossen. Sie schildert:  

​Es ist hier schwer, eine Mutter zu sein. Vielen Müttern geht es wie mir, sie haben Angst, ihre Kinder zu verlieren. Ich kann mich nicht an die Angst gewöhnen.  

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​Zurück zur Gewaltgeschichte im heutigen Evangelium, dem Kindermord des Herodes. Wenn auch das Jesuskind durch göttliche Fügung überlebt, zeigt der Evangelist gleichzeitig auf, wie bedroht das Leben dieses Kindes Jesus als Teil seines Volkes von Anfang an war. Es geht hier um Opfer von Gewalt und Krieg in einem System von Machtmissbrauch und totalitärer Herrschaft. Es sind weder notwendige Opfer, noch sind sie von Gott gewollt oder verursacht.

 

​Diese Gewalt lässt sich nicht ungeschehen machen, die offenen Wunden bleiben. Aber die Klage vor Gott, für die Rahel steht, wendet sich an den Gott des Lebens, und sie wird gehört und erhört – wenn auch mitunter erst Jahrzehnte später. Der Prophet Jeremia nimmt es vorweg: „Es gibt einen Lohn für deine Mühe – Spruch des Herrn: Sie werden zurückkehren aus dem Feindesland. Es gibt eine Hoffnung für deine Zukunft: Die Kinder werden zurückkehren in ihr Gebiet.“

 

​Auch der Evangelist Matthäus lässt Jesus und seine Familie aus dem Exil heimkehren, damit nicht die Unheils- sondern die Heilsgeschichte weitergeht.  

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​Zitate aus Gesprächen 2006. Quelle: Martin Schäuble: Die Geschichte der Israelis und Palästinenser. Der Nahost-Konflikt aus Sicht derer, die ihn erleben. 3. aktualisierte Neuauflage, Hanser-Verlag München 2024, S. 188f.   ​ 


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