Termine statt.
Termine statt.
Ein eigenartig zusammengewürfeltes Evangelium begegnet uns am 3. Sonntag im Jahreskreis. Es beginnt mit den vier Eingangsversen des ersten Kapitels, in denen Lukas die Sorgfalt beschreibt, mit der er alles über Jesus „der Reihe nach“ darstellen will. Damit soll die Zuverlässigkeit der christlichen Lehre bewiesen werden.
Die Urheber unserer Leseordnung verlassen jedoch die Reihenfolge und setzen nach dieser kurzen Einleitung mitten im vierten Kapitel fort. Was haben sie sich dabei gedacht?
Sehr viel, wenn man davon ausgeht, dass Lukas keine geschichtliche Abhandlung verfassen wollte, die chronologisch genau vorgeht. Die Zuverlässigkeit seiner Lehre stützt sich vielmehr auf das, was sich inhaltlich, existentiell „ereignet und erfüllt hat.“ (1,4)
In diese Richtung setzt die Perikope fort. Jesus tritt zum erstenmal öffentlich auf. Es ist Sabbat und er geht in die Synagoge seiner Heimatstadt. Die Schriftrolle des Jesaja wird ihm gereicht. Er sucht die folgenden Sätze heraus und liest sie vor:
Der Geist Gottes ruht auf mir; Denn der Herr hat mich gesalbt.
Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe;
Damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht;
Damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.
Dann schließt er das Buch und legt den gespannten Zuhörern dar: Heute hat sich die Verheißung des Jesaja erfüllt vor euren Ohren. Sie hat sich erfüllt in meiner Person.
Das „Heute“ der Erfüllung schwingt weiter durch die Jahrtausende bis in unsere Ohren, die uns beim Hören des Evangeliums gleichfalls zu Zeugen werden lassen.
An diese „Heute“ schließt sich nahtlos das Sozialwort der 14 Kirchen des Ökumenischen Rates an, welches mit den Worten beginnt:
Unser „Heute“ – betrachtet im Licht der Tradition Israels und der Botschaft Jesu – ist in die Texte der Kirchen eingeflossen, die sich „in ihrer sozialen Verantwortung dem Auftrag Gottes, wie er in der Heiligen Schrift bezeugt ist, verpflichtet wissen.“ (12)
Nach Lukas beginnt Jesus sein Programm mit dem Gott, der den Menschen nahe sein will; mit einem Gott, der befreit, heilt, aufrichtet, nachgeht, tröstet und segnet. Er ist ein Gott voller Mitleid und Zuneigung.
Die Kirchen wissen sich von dieser Weltzuwendung Gottes her „in besonderer Weise an die Seite der Armen und Ausgestoßenen gestellt. Sie betrachten die Wirklichkeit von Welt und Gesellschaft aus der Perspektive des Evangeliums... Hilfe für Hungernde, Fremde und Obdachlose, für Kranke und Gefangene ist für Jesus unerlässliche Voraussetzung für eine geglückte Gottesbeziehung.“ (14)
Angesichts der immer größer werdenden Ungleichheit nicht nur zwischen Kontinenten, sondern auch zwischen Bevölkerungsgruppen der einzelnen Länder wird der Ruf nach einer Gerechtigkeit für alle immer dringender. Wie jedoch lässt sich eine gerechte Gerechtigkeit finden?
Die Gerechtigkeit als Kardinaltugend wird dargestellt in der weiblichen Gestalt der Justitia. Ihr wichtigstes Attribut ist die Waage. Das gerecht abgewogene Urteil zeigen die im Gleichgewicht befindlichen Schalen. Justitia trägt eine Augenbinde als Zeichen ihrer Unparteilichkeit, in der sie ohne Ansehen der Person richtet. Obwohl diese Gerechtigkeit für alle Menschen in gleicher Weise gilt, können ihre Entscheide für Ärmere viel schwerer wiegen und sich ins Gegenteil verkehren.
Sie werden zur Härte und zum Unrecht, wenn sie Menschen in noch größere Not bringen. Diese Sicht der Gerechtigkeit ist blind für die Wirklichkeit des einzelnen.
Jesus lebte eine andere Gerechtigkeit vor. Sie nimmt den einzelnen in den Blick und entscheidet höchst parteilich. Jesus fühlt sich als Anwalt für die Armen, nicht für die Reichen. Zu den Kranken weiß er sich gesandt, nicht zu den Gesunden. Für Sünder ist er gekommen, nicht für Gerechte. Bei ihm bekommt nicht jeder das gleiche. Doch jeder einzelne kann erwarten, genau das zu bekommen, was er gerade braucht.
Jesus lebt Gerechtigkeit in einer Liebe, die in konzentrierter, nüchterner Aufmerksamkeit auf den Menschen zukommt und mit einem Wort, einer Geste die Wurzel der Not berührt und wendet. Niemand ist so klein, dass er aus dem Blick Jesu und seiner Zuwendung herausfallen könnte. Die Verheißung kann sich für jeden einzelnen erfüllen.
Die heutige Perikope verschweigt die Reaktion der damaligen Hörer auf die Proklamation Jesu, dass die alten Verheißungen mit ihm erfüllt seien. Das fehlende Stück wird am kommenden Sonntag gelesen, soll aber heute schon kurz vorweggenommen werden, weil der gesamte Text eine Einheit bildet.
Anfangs zeigen sich die Zuhörer Jesu begeistert und stolz, da er in seiner Heimatstadt bekannt ist. Ein weniger guter Menschenkenner als Jesus würde sich vielleicht mit dem überschwänglichen Erfolg begnügen oder sogar versuchen, ihn mit ähnlichen Reden zu wiederholen. Jesus widersteht dieser Versuchung.
Mit einer provokanten Auslegung zweier Beispiele aus der Geschichte Israels erinnert er seine Zuhörer daran, dass der Weg vom Hören zum Handeln führen muss, und dass die meisten von ihnen diesen Weg noch nicht unter die Füße genommen haben. Die Stimmung schlägt schlagartig um und sie treiben Jesus aus der Stadt hinaus.
Solidarität mit Schwachen und Notleidenden schließt den Hinweis auf Unrecht mit ein. Dass man sich damit unbeliebt machen kann, weiß jeder, der einen solchen Hinweis auf sich genommen hat.
Der Glaube, der sich auf den menschgewordenen Gott beruft, ist zuallererst ein Glaube, der sich durch Menschlichkeit und Barmherzigkeit ausdrückt. Gottesbeziehung und Menschenbeziehung stehen in einem direkten Verhältnis, ein entweder – oder ist nicht möglich.
Fürbitten:
Ich war hungrig, ihr aber habt auf Behörden verwiesen.
Ich war durstig, ihr aber habt eine bescheidene Spende gegeben.
Ich war nackt, ihr aber habt neue Raketensysteme entwickelt.
Ich war fremd, ihr aber habt Asylbewerber abgewiesen.
Ich war gefangen, ihr aber habt euer Auto poliert.
Ich hatte keine Arbeit, ihr aber habt Kirchenlieder gesungen.
Ich hatte keine Bleibe, ihr aber habt neue Straßen gebaut.
Ich hatte keine Freunde, ihr aber habt Vorurteile weiter getragen.
Ich hatte keine Rechte, ihr aber habt auf Gastarbeiter herab gesehen.
Ich hatte keinen Namen, ihr aber habt geschwiegen.
Wenn ihr mich wirklich sucht: in meinen ausgebeuteten, geschundenen, verachteten Schwestern und Brüdern werdet ihr mich finden.
Nach Peter Friebe (in: Ferment)