Liebe Gemeinde!
Da zieht dir einer das letzte Hemd aus oder den letzten Cent aus der Tasche und es kommt niemandem eigenartig oder komisch vor. Nur einer warnt vor denen in langen Gewändern, die sich überall in Szene setzen. Auch heute verschleiern Slim fit Anzüge und ein breites Lächeln oft die Verhältnisse, machen Arme und Benachteiligte unsichtbar. Selbstdarsteller*innen rücken sich selber ins Licht, blenden.
Damals wie heute stellt sich die Frage nach Armut und Reichtum konkret. Jesus lässt sich von denen in der ersten Reihe nicht beeindrucken. „Nehmt euch in acht vor den Schriftgelehrten!“ Scharf und hart klingt seine Kritik. Er muss es wissen, denn er hat hingeschaut, die Machenschaften studiert und sie öffentlich gemacht. „Sie fressen die Häuser der Witwen“, diese Worte legt Markus Jesus in den Mund. Das ist schon eine kräftige Ansage. Dass sie nebenher noch in ihrer Scheinheiligkeit lange Gebete verrichten, macht die Sache erst so richtig pikant. Denn Beten sollte sich am Willen Gottes orientieren. Und da ist im biblischen Sinne der Auftrag klar. Witwen und Waisen, Fremde, Kinder, ihnen galt der besondere Schutz in der Gemeinschaft und gerade der Tempel hatte diesen zu gewährleisten.
Jesu Beobachtungen ergaben aber ein ganz anderes Bild. Die Witwen werden nicht geschützt, sondern um ihre Häuser, ihr Hab und Gut gebracht. Ja mehr noch. Witwen, die bettelarm sind, bringt man um ihr Leben, anstatt ihren Lebensunterhalt zu sichern. Die Schriftgelehrten und der Tempel fressen die Lebensgrundlagen der Armen auf, bereichern sich auf Kosten der Witwen. Eine Praxis von Umverteilung, die auch uns so unbekannt nicht ist. Reiche werden reicher, Arme werden ärmer, das alles wird toleriert von Regierenden und Mächtigen, die ihre Taschen nicht voll genug kriegen können. Habende werden bevorzugt, bei Förderungen und Steuerreformen. Auch das ist nicht neu. Auch in der Corona-Krise wurden die Millionäre noch reicher, während viele zugunsten des Profits und der Gewinne arbeitslos gemacht oder auf Kurzarbeit gesetzt wurden und nach wie vor werden und gerade so über die Runden kommen. Und was bedeutet es, wenn eine Mindestsicherung so wenig ist, dass sie zum Leben nicht reicht?
Dazu kann und will die Bibel nicht schweigen. Ja mehr noch, diese Machenschaften und wie das funktioniert, beschreibt Jesus detailgetreu. Er hält den Spiegel vor die Gesichter der Selbstgerechten. Die Reichen geben zwar viel, aber nur vom Überfluss und behalten doch das meiste für sich. Da hat sich bis heute nicht viel geändert. Auf Spendentafeln, in Festschriften oder auf großen Bildschirmen sind die Namen der Reichen zu lesen, sie werden namentlich erwähnt als edle Spender*innen, sie gehören wohltätigen Clubs und Vereinen an. Vielfach beruht ihr Reichtum darauf, dass sie gut geerbt haben, oder Landbesitz veräußert haben oder auch die Gewinne abschöpfen, die andere erarbeitet haben. Und, wie schon die Bibel beschreibt, besetzen sie die Ehrensitze, während andere sich den Eintritt nicht leisten können, ausgeschlossen bleiben.
Jesus beleuchtet die Schattenseiten eines Systems der Ungleichheit und Ungerechtigkeit und benennt klar das Unrecht. Die, die haben, werden immer reicher und tragen immer weniger zum Allgemeinwohl bei, weil sie eben nicht alles geben, während andere trotz Arbeit kaum mehr ihr Auslangen finden. Das alles wird unterstützt von Politik und Gesetzen, die die Besitzenden schützen und auch bei uns Menschen um ihren Wohnraum bringen. Weil immer mehr mit Wohnraum spekuliert wird. Nehmt euch in acht vor den Mächtigen, die nur mehr ihren eigenen Vorteil sehen, möchte man da auch heute wieder rufen.
Dagegen tritt Jesus an mit seinem Programm der Tora, der Gerechtigkeit und Nächstenliebe. Wenn jede und jeder auf seinen Nächsten, auf seine Nächste schaut, dann geht es allen gut. Soweit zum Thema Nächstenliebe. Im Widerspruch dazu das Handeln der Schriftgelehrten und des Tempels. Die Selbstgefälligkeit und Selbstverliebtheit der Schriftgelehrten verdeckt den Blick auf die Mitmenschen, auf die Schutzbefohlenen der Tora. Die eigene Eitelkeit steht im Mittelpunkt, man will gegrüßt werden, die besten Plätze einnehmen, wichtig sein.
Jesus hat sich hingesetzt, genau beobachtet, und daraus seine Schlüsse gezogen.
Hier gibt Jesus nicht nur seinen Jüngern klare Anweisungen, auch für die jungen Christengemeinden wird klar, worauf der Blick zu lenken ist. Die Lebensmöglichkeiten, die Lebensverhältnisse der Armen sind Gradmesser der Praxis der Gemeinde. Die Qualität der Menschlichkeit bemisst sich danach, wie mit den Schwächsten umgegangen wird und danach, was man auch den Reichen abverlangt als Beitrag.
Eine arme Witwe wirft das Letze, was sie hatte. Sie wirft ihr ganzes Leben hinein. Was bleibt ihr dann zum Leben könnte man fragen und sich gleichzeitig selbst die Antwort geben: Nichts. Nur der Tod.
Jahwe will Leben. Ein System, das die Menschen um ihr Leben bringt, steht einer göttlichen Grundordnung der Egalität, der Gleichheit und der Autonomie, der Freiheit des Lebens radikal gegenüber. Das macht Jesus eindrucksvoll und prägnant klar. Der Tempel bietet nicht Schutz, sondern bringt Tod. Die Kritik Jesu kann stellvertretend auch unsere Regierenden beleuchten. Jesu prangert die verkehrte Spendenpraxis an und macht mit der Spende der Witwe beispielhaft deutlich, wie es um die Lebensumstände der kleinen Leute bestellt war. Die Witwe wirft 2 Lepton, die kleinste Währungseinheit und damit ihren ganzen Lebensunterhalt in den Opferkasten. 2 Lepton waren ein Quadrant. Aus der täglichen Armenschüssel wurden damals 8 Quadranten pro Kopf ausgegeben. Auf die Witwe bezogen kann man ein bekanntes Sprichwort bemühen: Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Ihr Leben zu sichern wäre Aufgabe der Schriftgelehrten und des Tempels.
Allzu oft wurde die Witwe in unserer christlichen Tradition hingestellt als Paradebeispiel des Gebens, als die, die das letzte gab, was sie hatte. Wovon bezahlt sie dann aber ihr Leben?
Das Lob der armen Witwe scheint also keine zielführende Auslegung dieser Bibelstelle zu sein, will man eine Gesellschaft, in der alle gut leben können. In den Blick gerückt wird auf jeden Fall die Verantwortung der Gemeinde, der Reichen und Habenden, im weiteren Sinne der Gesellschaft für die Menschen, die in ihrem Umfeld leben und die wenig oder nichts zum Leben haben. Und auch die Frage des Umgangs mit Reichtum wird indirekt geklärt. Sätze aus der Apostelgeschichte rufen hier in Erinnerung: „Alle Glaubenden aber hielten zusammen und hatten alles gemeinsam“. Der Beitrag aller ist gefordert. Teilen ist die Praxis der christlichen Gemeinde, radikale Verantwortung füreinander. Hier dürfte es keine Armen und Bedürftigen geben, weil geteilt wird bis alle genug haben.
Markus ruft mit diesen Sätzen die Tradition in Erinnerung. Witwen, Waisen und Fremde standen als Schwache der Gesellschaft unter besonderem Schutz. Wenn also von der Witwe die Rede ist, werden auch andere Gruppen ins Gedächtnis gerufen. „Denn Jahwe, euer Gott ist der Gott … der der Waise und Witwe Recht verschafft und den Fremden liebt, so dass er ihm Brot und Kleidung gibt. Auch ihr sollt den Fremden lieben; denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten.“
Erinnert euch eurer Geschichte und handelt wie es in der Tora geschrieben steht. Denn wer Tora tut wird leben. Darauf will Markus verweisen.
Wer sind heute die Witwen, die Schutzbedürftigen?
Wie ist unser Blick auf die Schwächeren, auf die Bedürftigen unserer Gesellschaft, die Asylwerber*innen, die Geflüchteten, die Mindestpensionist*innen, die Arbeitslosen, die Obdachlosen, Migrantinnen und Migranten, die Kinder? Was tun wir konkret? Setzen wir uns ein für menschenwürdige Verhältnisse für geflüchtete Menschen? Wo teilen wir unseren Lebensraum mit ihnen? Schreien wir laut auf, wenn trotz steigender Gewinne Löhne verhandelt werden, die das Leben nicht mehr sichern? Treten wir auf, wenn menschenverachtend über Migrant*innen, Arbeitslose, Jugendliche geredet wird? Ist uns bewusst, auf wessen Kosten wir leben? Sind unsere Türen offen zum Eintreten und Begegnen?
Eine solidarische Gesellschaft braucht unser Teilen. Möge es uns irgendwann gelingen, vom Geben des Überflusses zum wirklichen Teilen zu kommen. Damit alle leben können, und zwar in Fülle.