Liebe Gottesdienstgemeinde,
das Evangelium des heutigen Sonntags enthält die Frage nach dem wichtigsten Gebot. Jesus beantwortet diese Frage mit dem sogenannten Doppelgebot. Zum einen: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken (Vers 37). Und zum anderen: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (Vers 39) Beides ist gleich wichtig, betont er!
Diesem Evangelium zur Seite gestellt ist heute die Lesung aus dem 1. Testament aus dem Buch Exodus, Kapitel 22, Vers 20 – 26. Hier geht es um Anweisungen zum Schutz vor Unterdrückung und Ausbeutung. Bestimmte Personengruppen sind ausdrücklich genannt und Beispiele aufgezählt.
Nicht zufällig stehen diese beiden Bibeltexte gemeinsam da – man könnte die Lesung als Aufforderung verstehen, sich doch mal genauer umzusehen, wer denn mein Nächster ist, den ich lieben solle wie mich selbst. Die engere Familie, den:die Lebenspartner:in sowie persönliche Freund:innen zu lieben und für sie da zu sein, ist ja normalerweise nicht die Frage. Doch wenn wir auf Menschen schauen, die alleine dastehen, die fremd sind, die keine Lobby haben – sie als Nächste zu sehen, ihnen menschliche Zuneigung, Würde und
Schutz zuzusagen und dies auch ganz praktisch zu leben, ist eine Herausforderung – eine im engen Wortsinn christliche „Zu-Mutung“.
Etwas neuzeitlicher und weltlich ausgedrückt, finden wir das Thema auch im Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Dort heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren … und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Heute, 75 Jahre später, würden wir es vielleicht nochmals anders formulieren, aber die Aussage ist klar: Du und ich sind gleich viel wert und das hat sich im Miteinander widerzuspiegeln!
Welche Menschen, welche „DU“, sind es nun, die in der Lesung vorkommen? Der Text benennt ausdrücklich Fremde, Witwen, Waisen und Arme, deren Notlage nicht ausgenutzt werden darf. Ganz klar steht Gott an ihrer Seite, wenn ihnen die Lebensgrundlagen – wie z.B. der einzige Mantel als Schutz vor der nächtlichen Kälte – vorenthalten wird.
Und nun versuchen wir, dieses Bild der Lebensgrundlagen in die heutige Zeit zu übertragen. Für die große Mehrheit der Menschen in Österreich ist die Erwerbsarbeit die Basis ihrer Lebensgrundlage. Durch sie sind wir kranken- und unfallversichert, mit dem Lohn bestreiten wir unser Auskommen, unseren Lebensunterhalt. Auch für die Pension ist von Relevanz, wie lange wir Teil dieses Systems waren und was wir verdient haben.
Doch in den letzten Jahren beobachten wir rasante Umformungen am Arbeitsmarkt, Erwerbsarbeit verändert sich. Da geht es nicht nur um den Wandel von Berufsbildern, um Digitalisierung und KI. Es geht auch um Auslagerungen, Schaffung von Sub-Systemen, Flexibilisierung und Risikoverschiebungen mit der Folge, dass eine dauerhafte, gut dotierte Festanstellung in Vollzeit inzwischen alles andere als der Normalfall ist.
Viele Menschen arbeiten im sogenannten prekären Bereich, der weder finanzielle Sicherheit noch langfristige Planbarkeit bietet. Das sind junge Leute mit Studium, die sich von Praktikum zu Praktikum hanteln, Crowdworker, die auf Onlineplattformen ausgeschriebene Aufträge für ein Pauschalhonorar übernehmen. Wiedereinsteiger:innen, die – oft als Ausweg aus der Betreuungsmisere – als Einpersonenunternehmen ihr Auskommen zu sichern versuchen. Das sind Arbeitnehmer:innen, die auf die Vermittlung durch Leasingfirmen angewiesen sind, die es aufgrund ihres Alters oder ihres Migrationshintergrunds schwer haben. Menschen, die geringfügig angemeldet werden und in Wahrheit ganztags arbeiten.
Oder diejenigen, von denen verlangt wird, sich selbständig zu melden und die als Subunternehmer bzw. als freie Dienstnehmer:innen Aufträge abarbeiten – zu finden bei Grafikdesign, IT oder Reinigungs- und Sicherheitskräften genauso wie in der Bauwirtschaft oder im Zustellgewerbe.
Bleiben wir kurz bei dieser Gruppe: Wenn wirtschaftliche Abhängigkeit von nur einer einzigen Auftragsfirma besteht, liegt die Vermutung von Scheinselbständigkeit nahe – ein heutiges Beispiel von Ausnutzung und Ausbeutung, denn Scheinselbständigen wird durch Vertragslösungen vorenthalten, was ihnen als Arbeitnehmer:innen eigentlich zustünde: bezahlter Urlaub, Zulagen, Arbeitsplatzausstattung und -geräte, soziale Absicherung, ...
Ein zweites aktuelles Beispiel für prekäre Arbeit möchte ich noch nennen: Viele von uns bestellen schnell mal ein Mittag- oder Abendessen online. Zugestellt wird es oft unter körperlich herausfordernden Bedingungen von Fahrradkurieren – orange für „Lieferando“, pink für „foodora“. Wer hier als freie:r Dienstnehmer:in radelt, erhält pro Bestellung einen Fixbetrag von ein paar Euro, dazu kommt ein variables Kilometergeld, mit Glück auch noch etwas Trinkgeld. Und bei einer schwachen Schicht? Viel Stehzeit, noch weniger Einkommen …
Unter den vielen Menschen, die für ihren Lebensunterhalt an Arbeit nehmen müssen, was sich bietet, ist der Anteil von Migranten und Migrantinnen besonders hoch – unabhängig von ihrem tatsächlichen Bildungsstand und ihren Kompetenzen.
Es scheint verlockend zu sein, die Notlage anderer, vor allem fremder Menschen, auszunützen, ihre Arbeitskraft auszubeuten, ihnen Rechte vorzuenthalten. Schon der Jahrtausende alte biblische Lesungstext weiß um diese Versuchung und warnt davor. Der stetige Anstieg von prekären Arbeitsverhältnissen hat nun 2019 die EU auf den Plan gerufen. Als Reaktion auf die zunehmende Deregulierung hat sie Mindeststandards für Arbeitsbedingungen eingeführt, die quer über alle Beschäftigungsformen hinweg gelten.
Im September 2022 verabschiedeten die Abgeordneten des Europäischen Parlaments eine EU-Gesetzgebung für angemessene Mindestlöhne. Das sind erste Schritte, die Rechte von Menschen in unseren neuen, flexiblen Arbeitswelten zu stärken und ausbeuterischen Verhältnissen einen gesetzlichen Riegel vorzuschieben, weitere werden folgen.
Ich freue mich darüber, denn christliche Nächstenliebe hat nicht nur ein persönliches Gesicht.
Dieses „Du sollst“ der Bibel weist über das Individuelle hinaus, es ist ebenso ein kollektiv zu verstehendes „Du sollst“, das sich an die Gemeinschaft richtet.
Somit sind die Texte des heutigen Sonntags auch ein Auftrag, in gemeinsamer Verantwortung für ein (Arbeits-)System zu sorgen, das die Gleich-Wertigkeit und Gleich-Würdigkeit aller Menschen schützt und besonders die vulnerablen Personen vor Unterdrückung und Ausbeutung bewahrt!
Amen
Fürbitten
Du menschenfreundlicher Gott, du Lebensbejahender, zu dir kommen wir mit unseren Sorgen, Ängsten und Hoffnungen. Wir bitten dich:
Für alle Menschen, die unter prekären Bedingungen ihren Lebensunterhalt verdienen müssen – sei bei ihnen und gibt ihnen Kraft und Mut, ihre Würde und ihre Rechte zu verteidigen.
Wir bitten dich, erhöre uns
Für jene Personen, die in Politik und Wirtschaft die Weichen stellen: Weite ihren Blick und stärke ihre Einsicht, dass sie Verantwortung tragen für das gute, solidarische Miteinander aller.
Wir bitten dich, erhöre uns
Auch für uns, die wir hier sitzen, bitten wir um die nötige Sensibilität, wenn wir auf konkrete Arbeitsbedingungen schauen – lass uns die größeren Zusammenhänge erkennen und dort aktiv werden, wo unser eigener Einsatz Verbesserungen bringen kann.
Wir bitten dich, erhöre uns
Für alle Getauften: dass sie in Verbindung zu dir, Gott, bleiben und die mutmachende Botschaft des Evangeliums weitertragen.
Wir bitten dich, erhöre uns
Gott, nimm auch alle Bitten auf, die unausgesprochen geblieben sind.
Auf deinen Beistand und deine Liebe vertrauend, wollen wir unseren Beitrag leisten, um Arbeit und Welt ein Stück gerechter zu gestalten. Schenke DU uns das Fehlende dazu.
Amen.