Der Tod im Buddhismus
1. Auffassungen über den Tod
Im Buddhismus ist der Tod nicht der endgültige Schluss der zeitlichen Existenz. Der Tod ist hier nur ein Teil des ständigen Werdens, ein Übergang von einem zum anderen Zustand der Endlichkeit. Diese Deutung ergibt sich von der buddhistischen Auffassung des Lebens: dieses ist ein sich stetig verändernder anfangloser Prozess als ununterbrochene Kette von Ursache und Wirkung. Hier ist der Tod kein Schlusspunkt dieses Laufes, sondern nur eine wiederkehrende Phase darin. Er führt nicht aus diesem Kausalitätsgesetz hinaus, noch vermag er es zu verändern.
Die buddhistische Anthropologie beschreibt den Menschen als Ergebnis eines dynamischen Zusammenwirkens von fünf Daseinsfaktoren: Körper, Empfindungen, Wahrnehmungen, Triebe und Bewusstsein. Unter diesen Elementen figuriert keine Seele, auch kein Selbst und kein Ich. Der Buddhismus erkennt also keine konstante, sich im Raum und Zeit durchhaltende Identität der Person an. Da die menschliche Person demnach nur als Fiktion wahrgenommen wird, gibt es im Buddhismus auch kein Gleichnis, das den Tod eindeutig und plausibel erklären kann. Formal ist der Tod die komplette Auflösung aller fünf Daseinsfaktoren. Dann konsolidieren sie sich neu und begründen wieder die Existenz eines Individuums. Diese Neuordnung ist seine Wiedergeburt. Das Ereignis des Todes vollzieht sich im Kontinuum der innerweltlichen Unvollendetheit, nicht an der Grenze zur Endgültigkeit einer jenseitigen Ewigkeit. In der traditionellen buddhistischen Ausdrucksweise kann man weder sagen, dass das wiedergeborene Individuum dasselbe ist, wie das verstorbene, noch dass es völlig unterschieden davon wäre.
Alle buddhistischen Traditionen stimmen überein, dass im Augenblick des Todes die fünf Daseinsfaktoren zerfallen und dass danach diese zerflossenen Elemente getrieben werden, eine neue Gestalt zu suchen, bzw. sich in ihr zu verkörpern. Der Antrieb dafür ist das Gesetz des Karma (sanskr. = Tat, Handlung). Danach bewirkt jede Absicht bzw. Motivation des Tuns einen Einfluss auf die Art bzw. auf den Daseinsbereich der Wiedergeburt. Wenn z.B. im Leben die bösen Absichten dominieren, so kann der Mensch als ein Tier, Pflanze oder Stein wiedergeboren werden. Waren seine Handlungsmotive moralisch gut, so ist seine nachfolgende Existenz ein Mensch mit besseren geistigen oder sozialen Qualitäten. Im Unterschied zum Christentum ist es möglich, auch nach dem Tod aktiv an der eigenen sittlichen Vervollkommnung zu arbeiten und im Leben Versäumtes nachzuholen.
2. Verschieden Antworten in den buddhistischen Traditionen
a. Der Theravada-Buddhismus
Die buddhistischen Traditionen unterscheiden sich in der Beantwortung der Frage, in welchem raum-zeitlichen Verhältnis Tod und Wiedergeburt zueinander stehen. In der ältesten Pali-Tradition - der Theravada-Schule (verbreitet in Sri Lanka, Burma/Myanmar, Laos und Kambodscha) - folgen Tod und Wiedergeburt sofort aufeinander. Nichts aus dem älteren Leben kann im neuen vorkommen. Eine Analogie dafür ist der Vorgang mit einer Kerzenflamme, die eine andere Kerze anzündet.
b. Der Mahayana-Buddhismus
Im späteren Mahayana-Buddhismus (verbreitet in Korea, Japan, China, Mongolei, Tibet, Vietnam) gibt es zwischen Tod und Wiedergeburt einen Zwischenzustand und ein in diesem innewohnendes Wesen. Dieses ist nur von geistig ähnlichen Geschöpfen erkennbar, besitzt alle Sinne wie ein Klon des Verstorbenen und überwindet mühelos Raum und Zeit. In dieser Sicht der Widergeburt ist es möglich, dass etwas aus dem früheren Leben verwandelt weiterbesteht.
c. Der tibetische Buddhismus
Im tibetischen Buddhismus ist für den Vollzug des Todes der Wille des Sterbenden wichtig. Unvorbereiteter, plötzlicher oder gewaltsamer Tod gilt als unheilvoll. Hierfür werden besondere Riten zur Hilfe ausgeübt, um den Dahinscheidenden positiv zu beeinflussen. In diesem Zusammenhang hat der tibetische Buddhismus eine einmalige Sterbebegleitung entwickelt, dargestellt im Buch Bardo-Thödol, „Die Befreiung im Zwischenzustand durch das Hören der Lehre“. Hier ist die geistige Verfassung des Dahinscheidenden im Augenblick des Todes im folgenden Gebet beschrieben:
„O dass ich jetzt, wo der Zwischenzustand des Todesaugenblicks mir dämmert,
Indem ich Zuneigung und Verlangen und Schwäche für alle (weltlichen Dinge) aufgebe,
Gesammelt sei im Raum der hellen (erleuchtenden) Lehren. Dass ich fähig sei, in den Himmelsraum der Ungeborenen hinüberzufließen: Die Stunde ist gekommen, wo ich von diesem Körper, der aus Fleisch und Blut besteht, zu scheiden habe: dass ich wisse, dass der Körper nicht von Dauer und trughaft ist.“[1]
Der Sterbende, der im Zwischenzustand schwebt, erfährt eine Reihe von Lichtvisionen und Einsichten: helles Licht, Sehen des eigenen Körpers, Beobachtung seiner Angehörigen, wie sie auf seinen Tod reagieren. Die Rezitation aus dem Buch, die Mönche, Nonnen oder seine Angehörige vortragen, soll ihm helfen, diese Erfahrungen zu verstehen, um zu einer besseren Wiedergeburt zu gelangen. Die Texte dieses Buches sind sehr ähnlich mit Berichten über klinisch Tote und Nah-Tod-Erfahrungen der naturwissenschaftlich orientierten Medizin.
3. Leben nach dem Tod
In den meisten buddhistischen Lehren werden verschiedene Bereiche als Orte der Wiedergeburt angenommen. Man kann in der Tierwelt, Gespensterwelt, Höllenwelt, Götterwelt und Menschenwelt geboren werden. Diese Bereiche sind auch Teile des Wiedergeburtenkreislaufs. Da das Dasein im Buddhismus als vergänglich und in dieser Vergänglichkeit als leidvoll erfahren wird, gibt es keine Wiedergeburt, die in einen Bereich frei von Krankheiten, Altersschwäche und Tod führt. Auch ist es nicht der Tod, der von diesem Kreislauf des Leidens befreien kann. Ausdruck der Befreiung aus diesem Zyklus von Geburt und Tod ist vielmehr „Nirvana“ (sanskr. = verwehen, verlöschen). Nirvana bezeichnet das restlose Abschütteln der Grundübel, aufgrund deren man durch immer neue Existenzen ins leidvolle Dasein verstrickt bleibt: Wünsche nach Glück, geschlechtliches Begehren, Verlangen nach Leben, Bindungen mit weltlichen Erscheinungsformen, Nichtwissen bzw. Unerleuchtetheit. Dieser Zustand lässt sich nur mit einer Paradoxie deuten: es ist der Tod des Todes. Dieser letzte Tod führt nicht zur Unsterblichkeit, wo ewig gelebt wird, sondern zur Todlosigkeit, wo es keine Geburt mehr gibt. Das ist die buddhistische Erlösung, das Ziel des Heils.
In der Mahayana-Tradition und im japanischen Zen-Buddhismus kann Nirvana bereits zu Lebzeiten erreicht werden, als Loslösung von falscher Erkenntnis und mystischer, nicht existenzieller Vorwegnahme des Verlöschens. Das ist aber nur für besonders geistig erfahrene, sittlich hochstehende Menschen möglich, deren Erlöstheit zum Heile der anderen Lebewesen zur Verfügung steht. In den anderen Traditionen ist Nirvana nur im Tod erreichbar. Dieser Status ist aber kein Geschenk aus göttlicher Gnade, sondern ist Ergebnis von besonders guten moralischen und spirituellen Anstrengungen. Die Interpretation des Nirvana reicht von totaler Zunichtemachung bis zur seligen Freude. Dieser Zustand ist das einzige Unwandelbare im Buddhismus.
Besonders charakteristisch für den Buddhismus sind die Meditationen über den Tod. Zu einer guten Lebensführung gehört, dass der Tod nicht verdrängt wird. Die Todesmeditationen machen die eigene Sterblichkeit bewusst, leiten zur besseren Zeitnutzung an und gelten als Einüben in das eigene Sterben. Sie erziehen zu Achtsamkeit und Überwindung von unheilvollen Eigenschaften:
„...als hätte der Mönch einen Leib auf der Leichenstätte liegen sehn, einen Tag nach dem Tode oder zwei oder drei Tage nach dem Tode, aufgedunsen, blauschwarz gefärbt, in Fäulnis übergangen, zieht er den Schluss auf sich selbst: ‚Und auch dieser Körper ist so beschaffen, wird das werden, kann dem nicht entgehen.’ Während er also ernsten Sinnes, eifrig, unermüdlich verweilt, schwinden ihm die hausgewohnten Erinnerungen dahin; und weil sie dahingeschwunden, festigt sich eben das innige Herz, beruhigt sich, wird einig und stark.“[2]
4. Begräbniszeremonien
Während der Bestattungszeremonie werden Reden des Buddha vorgetragen, Mönche erläutern den Hinterbliebenen die Vergänglichkeit der Welt. Spätestens am siebten Tag nach dem Tod wird der Leichnam entweder bestattet oder verbrannt. Im Tibet gibt es auch die Luftbestattung, die Aussetzung des Verstorbenen für den Verzehr durch Geier. Es ist nicht üblich, dass die Hinterbliebenen ihren Abschiedsschmerz zeigen oder trauern, denn der Kummer erzeugt nur Leid und wirkt sich negativ auf die Wiedergeburt aus. Man versucht durch Gedanken der Güte, Frieden und Harmonie oder Almosen für die Mönche die Wiedergeburt zu begünstigen. Hier ein Bestattungslied aus Sri Lanka:
„Wie kurz ist aller Dinge Sein!
Sie müssen wachsen und darauf vergehn,
Nach kurzer Pracht sie bald verwehn,
Des Wechsels Ruhestand ist Glück allein.
Gleichwie die Ströme rinnen
Zum fernen Weltmeer hin,
So ist den teuren Toten
Der Gruß, der hier entboten,
Und Liebesgabe ein Gewinn.
Ja, treue Grüße, hier entboten,
Sind in der andern Welt den Toten
Ein wirksam Opfer, heiß begehrt.“[3]
Das Christentum kennt im Gegensatz zum Buddhismus nur ein unwiederholbares, einmaliges Leben, das im Tod zu seiner endgültigen Vollendung kommt. Der Buddhismus bindet das Lebendige in den wiederholbaren Kreislauf von Geburt und Sterben ein. Im Christentum wiederum hat die Zeiterfahrung eine unumkehrbare Richtung, im Gegensatz dazu ist im Buddhismus die Zeit wendbar. Christen hoffen auf die Fülle des ewigen Lebens durch Überwindung alles Heillosen und des Todes in der Begegnung mit Gott. Buddhisten streben die Überwindung des Todes an, weil er etwas Vergängliches und Leidvolles ist. Offen bleibt die Frage, was die Überwindung des Todes als Nirvana im Hinblick auf Welt und Geschichte bedeutet und ob diese Erfahrung mit dem christlichen Glauben an die Auferstehung etwas gemeinsam hat. Bereichernd könnte ein Erfahrungsaustausch in der Wahrnehmung und Behandlung von Nahtoderfahrungen, sowie in der Hospiz und Sterbebegleitung sein. Die buddhistische „ars moriendi“ fordert die ein wenig vergessene christliche „memento mori“-Tradition heraus, die unser Verhältnis zum Glauben, Leben, Tod und Gott vertiefen kann.
Deutsche Buddhistische Union (Hrsg.): Beiträge zu Tod und Sterben aus buddhistischer Sicht. Zusammengestellt von Alfred Weil. München 1995.
Gerhard Oberhammer (Hrsg.): Im Tod gewinnt der Mensch sein Selbst. Das Phänomen des Todes in asiatischer und abendländischer Religionstradition. Wien 1995.
Karl Seidenstücker (Übers). Pali-Buddhismus in Übersetzungen. München 1923.
Perry Schmid-Leukel: Die Bedeutung des Todes für das menschliche Selbstverständnis im Pali-Buddhismus. St.Ottilien 1984.
Hans Waldenfels (Hrsg.): Ein Leben nach dem Leben? Die Antwort der Religionen. Düsseldorf 1998.
Nyanaponika (Hg./Übers.) (1996): Sutta-Nipata. Frühbuddhistische Lehrdichtungen aus dem Palikanon. Stammbach 1996.
W.Y. Evans-Wentz (Hrsg.): Das tibetanische Totenbuch oder die Nahtoderfahrung auf der Bardo-Stufe. Düsseldorf 1997.
[1] Bardo thödol. Der Pfad der guten Wünsche: 3. Die Wurzelverse der Sechs Bardos in Auswahl. In: Evans-Wentz 1997, S. 285.
[2] Majjhima-Nikaya 119; I 892 in: Waldenfels 1998, S. 47f.
[3] Buddhistisches Bestattungslied in: Karl Seidenstücker 1923.