Der Tod im Judentum
1. Biblische Vorstellungen über den Tod im alten Israel
Das Judentum schöpft seine Vorstellungen über den Tod aus dem Alten Testament. Die hl. Schriften bieten aber darüber keine systematische Lehre. Über seine Ursachen, sein Wesen und seine Folgen steht hier sehr wenig. Viel größere Aufmerksamkeit ist der Verehrung Gottes und der Erlangung seines Segens gewidmet, der irdischen Lebensführung und Sittlichkeit, des Tuns und Hörens auf Gott. Die Todesfrage erscheint von untergeordnetem Interesse. Ausgangspunkt bei der Frage nach dem Tod ist die Erfahrung, dass Jahwe, der Gott Israels, Herr über Leben und Tod ist. Der Tod ist demnach keine eigenständige Macht. Er spielt keine bestimmende Rolle in der Geschichte. Es gibt keinen Totenkult, keine Totenriten. Die Gräber der Großen der Politik sind unwichtig: „Man begrub ihn (Mose) im Tal ... Bis heute kennt niemand sein Grab“ (Dtn 34,6). Frömmigkeit, die auf die Verstorbenen gerichtet ist, wird verurteilt: „Es soll bei dir keinen geben, der ... Verstorbene um Rat fragt“ (Dtn 18,11). Wenn das Leben nur in der Gegenwart Gottes möglich ist – „Ja, so spricht der Herr zum Haus Israel: sucht mich, dann werdet ihr leben“ (Am 5,4) – so wird der Mensch durch den Tod von Gott getrennt. Gott entzieht seinen Lebenshauch und entlässt den Menschen in die unbelebte Stofflichkeit: „Wenn er auf ihn den Sinn nur richtet, seinen Geist und Atem zu sich holt, muss alles Fleisch zusammen sterben, der Mensch zum Staube wiederkehren“ (Ijob 34,14). Der Ort der Toten ist die Scheol, die Unterwelt, das „Unland“ des Schattenreiches. Hier erlischt die lebensspendende Gemeinschaft mit Jahwe, hier kann der Mensch seine eigentliche Aufgabe – Gott zu loben – nicht erfüllen. Er führt ein Schattendasein ohne Lebensgenuss und ohne Kult. Zum Unterschied von den östlichen Religionen (Hinduismus, Buddhismus, Daoismus), aber auch von den Nachbarvölkern (Ägypten, antikes Griechenland, Babylon), wo es detaillierte Beschreibungen der Unterwelt und komplizierte Totenrituale gibt, ist das Interesse an einem Leben bzw. Zustand nach dem Tod sehr klein. Die größte Angst des Menschen ist der Verlust der Gottesbeziehung und nicht jenseitige Höllenqualen oder – wie in anderen Religionen - minderwertige Wiedergeburten. Im jüdischen Bewusstsein kann jedes Lebensunglück als Tod wahrgenommen werden, wie z. B. Krankheit, soziale Not und Verfolgung. Der Tod bedeutet also nicht nur ein biologisches Ende, sondern kann seine Grenze mitten im Leben zurückschieben als sozialer, oder sogar als kultischer Tod.
Juden sind überzeugt: Gott hat den Menschen nicht todlos erschaffen, aber durch die Sünde wird der Tod als Unheil erfahren. Es gibt demnach einen Zusammenhang zwischen Sünde und Tod: „... doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben“ (Gen 2, 17). Andererseits ist der Tod ein natürlicher Vorgang: „Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück“ (Gen 3,19). Der Tod wurde zum Problem, als die Gerechtigkeit Gottes angesichts des Glücks der Frevler und der Not der Frommen fraglich wurde. So veränderte sich die Vorstellung von dem allgemeinen Schicksal der Gottferne im Tod zur Hoffnung auf die Auferweckung der Gerechten und ewiges Leben bei Gott: „...der König der Welt wird uns zu einem neuen, ewigen Leben auferwecken, weil wir für seine Gesetze gestorben sind“ (2 Makk 7,9). Nun ist das Todesthema nicht mehr Chiffre von individueller Grenz- und Ohnmachtserfahrung, sondern wird mit dem Interesse an gesellschaftlicher Gerechtigkeit und politischer Befreiung verwoben. Die Voraussetzungen dafür entstanden im späteren Judentum unter iranisch-hellenistischen Einfluss. Nun setzten sich allmählich apokalyptische Vergeltungserwartungen für die Opfer der Geschichte und die Lehre der Pharisäer durch, dass nach dem Tod Gläubige und Gottlose das Letzte Gericht erwartet. Hier entscheidet Gott, ob der Tote ewig bei Gott leben wird, oder ob er für immer verdammt wird.
Daraus entfaltet Josephus Flavius (jüdischer Historiker, 37/38 – nach 100) die „Himmelfahrt der Seelen der Gerechten“, so dass die Unterwelt als Hölle zum Strafort für die Verdammten wurde. Andere rabbinische Schulen weisen der Unterwelt Läuterungswirkung zu. In noch späteren Zeiten kommt es aber nicht zu einer Vereinheitlichung der Lehren, sie existieren parallel in den verschiedenen jüdischen Traditionen und rabbinischen Richtungen der nachbiblischen Zeit. Diese spätjüdischen Lehren werden vom Christentum rezipiert.
2. Der Tod im nachbiblischen Judentum
Das erste jüdische Buch, das die Normen über den Umgang mit dem Tod separat zusammenfasst, der „Große Traktat über die Trauer“, ist zw. dem 3. und 8. Jahrhundert n.Chr. entstanden und gilt bis heute. Danach sind die Symptome des Todes das Aufhören des Atmens – „Alles, was auf der Erde durch die Nase Lebensgeist atmete, kam um“ (Gen 7,22) – bzw. des Herzschlags. Wegen der Organtransplantation hat sich heute auch das Ende der Hirntätigkeit als Zeichen des Todes durchgesetzt. Da der Leichnam als Eigentum Gottes gilt, muss seine Ganzheit gewährleistet sein. Deswegen wird Autopsie nur selten erlaubt. Leichenverbrennung wird abgelehnt. Der Tod muss rechtmäßig bezeugt und der Leichnam identifiziert werden, sonst kann die Witwe keine neue Ehe eingehen. Da der Tote als Quelle der Unreinheit empfunden wird, müssen entsprechende Regeln eingehalten werden (Verhüllen von Spiegeln, Öffnen der Fenster). Da vorausgesetzt wird, dass der Verstorbene alles wahrnimmt, was um ihn passiert, wird in seiner Gegenwart alles vermieden, was er auch gerne tun würde, z.B. essen, trinken. Die Trauernden dürfen vor dem Toten nicht Bibel oder andere religiöse Literatur lesen und auf dem Friedhof werden keine Torarollen und Gebetsriemen getragen, weil das für die Toten beleidigend ist. Bei den Juden gilt es nämlich als großes Glück, wenn man in der Lage ist, die Bibel zu lesen und Gottesdienst zu feiern. Innerhalb eines Jahres kann der Tote Fürbitten für seine Angehörigen leisten. Als Fegefeuer gilt das „Grabesleiden“: die Verwesung, die etwa ein Jahr dauert, sühnt seine Sünden. Nach diesem einen Jahr werden nur die großen Sünder in der ewigen Hölle verdammt, „ihre Seele vergeht, und ihr Leib wird verbrannt; sie werden zu Staub und der Wind zerstreut sie“ (tSan 13,4). Da der Tod für jeden Menschen folge der Schuld des ersten Menschen Adam ist, wird er als Sühne und Akt der Buße verstanden. Es ist umstritten, ob die Sühne von Tod an sich geleistet wird, oder nur nach der Umkehr des Sterbenden. Deswegen gibt es den Brauch, das zur Sterbevorbereitung wesentlich ein Sündenbekenntnis gehört. Da der Tod als Strafe Gottes gilt, wird auf einer Todesnachricht mit dem Aufruf „Gepriesen sei der gerechte Richter“ reagiert. Der Tod wird erst am Ende der Zeiten überwunden, dann, wenn Gott die Neue Schöpfung anbrechen lässt.
3. Zeremonien zum Begräbnis
Jeder Mensch, ob Jude oder nicht, muss bestattet werden. Der Leichnam wird bedeckt auf einer Bahre getragen und in ein Grab gelegt. In Israel werden Särge nur in Ausnahmefällen benutzt. Einäscherung ist im orthodoxen und im konservativen Judentum nicht erlaubt. Aus der Vorstellung vom Land Israel als Ort der Auferstehung und Sühne werden unter Umständen Verstorbene außerhalb Israels dorthin zur Bestattung gebracht.
Beim Sterben selbst darf der Dahinscheidende nicht allein gelassen werden. Er soll von mindestens zehn Männern auf seine letzte Reise vorbereitet werden: Selbstprüfung, Sündenbekenntnis, Annahme des göttlichen Gerichts, Reinigung und Verteilung von Almosen müssen gewährleistet sein. Die Angehörigen wirken mit Lied und Gebet mit. Das Ziel ist die gelassene Akzeptanz des Todes:
„Möge mein Leib ein Altar sein und meine Seele ein reines Opfer. Durch meinen Tod möge ich Vergebung erlangen, und meine Krankheit sei eine Sühne für all meine Übertretungen, Ungerechtigkeiten und Sünden ...“
„Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die einst erneuert wird, er belebt die Toten und führt sie zum ewigen Leben empor, er erbaut die Stadt Jeruschalaim und krönt seinen Tempel in ihr, er entfernt den Götzendienst und bringt den Dienst des Himmels wieder an seine Stelle, regieren wird der Heilige, gelobt sei er, in seinem Reiche und in seiner Herrlichkeit in euren Tagen und dem Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in naher Zeit, sprechet: Amen. Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten! Gepriesen sei und gerühmt und verherrlicht und erhoben und erhöht und gefeiert und hocherhoben und gepriesen der Name des Heiligen, gelobt sei er, hoch über jeden Lob und Gesang, der je in der Welt gesprochen wurde, sprechet: Amen! Fülle des Friedens und Lebens möge vom Himmel herab uns und ganz Israel zuteil werden, sprechet: Amen! Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen stifte Frieden unter uns ganz Israel, sprechet: Amen!“
Schließlich bildet man Spalier und kondoliert den Trauernden mit „Der Allgegenwärtige tröste euch inmitten aller, die um Zion und Jerusalem trauern.“ Beim Verlassen des Grabes wird Gras darauf gelegt: „Menschen blühen in der Stadt wie das Gras der Erde“ (Ps 72, 16). Beim Verlassen des Friedhofs wäscht man sich die Hände in einem Waschbecken zum Zeichen der Trennung von Tod und Unreinheit. Hier werden die Abschlussverse des Begräbnisses gesprochen:
„Er vernichtet den Tod in Ewigkeit, und der Ewige, Gott, wischt die Tränen von jedem Angesicht und die Schmach seines Volkes entfernt er von der ganzen Erde, denn der Ewige hat gesprochen“ (Jes 25,8).
Mit der Beerdigung beginnt die Trauerzeit, deren strenge Phase sieben Tage dauert, für die besondere Verhaltensregeln beobachtet werden. Dann folgt ein Jahr der Trauer, in der das Feiern von Festen vermieden wird.
Auch nach dem Schock des Holocaust steht im Zentrum jüdischer Religiosität nicht das Sterbenlernen, sondern das Leben in Verantwortung vor dem Angesicht Gottes.
(Verfasser: Mag.theol Hadrian Kraewsky, Redaktion: Dr. Stefan Schlager)
Literatur
Hansjakob Becker (Hrsg.): Liturgie im Angesicht des Todes. Judentum und Ostkirchen II. Übersetzungen und Anhänge. Sankt Ottilien 1997.
Johann Maier: Das Judentum. Von der biblischen Zeit bis zur Moderne. Bindlach 1988.
Kurt Schubert: Die Religion des Judentums. Leipzig 1992.
Günter Stemberger: Jüdische Religion. München 1996.
Dieter Vetter (Hrsg.): Gebete des Judentums. Gütersloh 1995.