Die Doppeldeutigkeit im Menschsein
In Extremen wird manches sichtbarer, da es in grelles Licht getaucht ist. Von solchen Extremsituationen erzählt Imre Kertesz. Er erzählt von Auschwitz und Birkenwald und er versteht es, das Erleben eines Vierzehnjährigen ins Universale zu wenden. Was hier erzählt wird, geht alle an. 2002 erhielt er den Literaturnobelpreis. So ist von folgender Begebenheit die Rede: Im Konzentrationslager erfolgt die Ausgabe der Essensration und irgendwie ergibt es sich, dass ein Mithäftling, genannt „Herr Lehrer“, die doppelte Ration bekommt und der Ich-Erzähler leer ausgeht. Der Ich-Erzähler schätzt die Situation auf deren Folgen hin ab: Verminderung der eigenen Überlebenschancen und zugleich Verdoppelung der Chancen für den „Herrn Lehrer“. Was dann passiert, macht die „Unausrottbarkeit“ einer Idee, wie er es nennt, offenbar. Er bekommt seine Essensration vom „Herrn Lehrer“. Der begegnet dem erstaunten Blick des Ich-Erzählers mit den Worten: „Was hast Du denn gedacht?!...“ – Wir wissen, was der Ich-Erzähler gedacht hat; der „Herr Lehrer“ beugt sich allerdings nicht diesem Kalkül. Indem er sich gegen seine Lebensinteressen entscheidet, tut er etwas, das er nicht hätte tun müssen. Durch diese Entscheidung übersteigt er zugleich die Situation des totalen Zwangs und der Vernichtung, wie es das Konzentrationslager darstellte.
Mit uns Menschen ist ein Lebewesen in die Welt gekommen, dem es um mehr geht, als ums bloße Überleben. Der Lebenswille kann ins Verhältnis gesetzt werden zu einer Form des Lebens, die wir unserem Leben geben wollen: Wer will ich sein? Wonach richte ich mein Leben aus? Worauf will ich mich selbst verpflichten? Biologische Vollzüge und das Verfolgen von Vitalinteressen sind also nicht allein ausschlaggebend. Daraus resultiert eine Doppeldeutigkeit oder auch ein Überschuss: Der aufrechte Gang, den der Mensch angenommen hat, meint eben nicht nur das physische Phänomen des Aufrichtens unseres Körpers, sondern er kann auch sinnbildlich genommen werden: Wie weit gelingt es, den aufrechten Gang beizubehalten, Haltung zu bewahren und ein Rückgrat zu haben? Wo verbiegen wir uns und ordnen uns Zwängen und Anforderungen unter? Schließlich ist der aufrechte Gang – sowohl in physischer als auch in „ideeller“ Hinsicht – höchst instabil: Ständig sind wir bemüht, unser Gleichgewicht zu halten. Sturz oder einzuknicken sind eine reale Gefahr. Den Kopf hochzuhalten ist also eine Anstrengung! Es geht nicht von selbst.
Durch das Aufrichten ist der Mensch auch ganz anders sichtbar geworden. Indem der Körper in die Vertikale gebracht wurde, sind die Möglichkeiten des Sich-Darstellens, bis hin zur Eitelkeit, ebenso eröffnet wie das Bedürfnis, sich zu verbergen, worin die Dimension der Scham ins Spiel kommt. Aufgrund der menschlichen Körperhaltung sind auch die Hände in ganz besonderer Weise frei geworden: Dadurch wird vieles ermöglicht, bis hin zu Situationen, in denen man nicht weiß, was man mit seinen Händen tun soll.
Außerdem verdient dabei der Umstand Beachtung, dass es der Mensch ist, der ein Gesicht, ein Antlitz hat. Das Gesicht des Menschen ist freigelegt, die Anatomie des Kopfes macht es möglich, Raum zu haben für Stirn, Wangen, Mund. Das erlaubt ein variantenreiches Mienenspiel, wie es bei Tieren aufgrund der vorstehenden Schnauze nicht möglich ist. Übrigens wird am Bau des Gesichts – Stirn, Nase, Mund, Kinn – das „Strukturprinzip der Vertikalität“ (H. Plessner) sichtbar. Auch hier begegnet uns wieder die Doppeldeutigkeit: Der physiognomische Befund einerseits und damit einher- und darüber hinausgehend die sinnbildliche Redeweise: Wir haben nicht nur ein Gesicht, sondern es kann auch darum gehen, „sein Gesicht zu wahren“ bzw. „sein Gesicht zu verlieren“. Damit sind Umstände angesprochen, die auf unsere Verpflichtungen, die wir eingegangen sind, zielen.
Diese Doppeldeutigkeit wird terminologisch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass zwischen hominitas und humanitas zu unterscheiden ist: Der Mensch ist einerseits in biologischer Hinsicht der Gattung Mensch zugehörig – hominitas. Damit ist aber für uns Menschen noch nicht alles gesagt. Die Hinweise machten deutlich, dass Menschsein sich nicht in biologischen Vollzügen erschöpft und nicht einfach von selbst geht. Menschsein ist auch Aufgabe – humanitas. Ein Versuch, Glück zu fassen, mag vor diesem Hintergrund anregend sein: Glück ist, wenn man sich ohne Erschrecken ins Gesicht sehen kann.
Univ.-Prof. Mag. Dr. Michael Hofer
Professor für Theoretische Philosophie, KU Linz
Erschienen in: Unsere Brücke. Dezember 2021 bis Juni 2022, hg. v. Priesterseminar der Diözese Linz, 2-4.