50 Jahre TelefonSeelsorge Oberösterreich: Hier hört ein Mensch
Rund um die Uhr, anonym und kostenlos ganz Ohr für die Anliegen der Menschen, die zum Hörer greifen: Das ist seit 50 Jahren das Angebot der TelefonSeelsorge Oberösterreich – Notruf 142. Dass Telefonberatung wirkt, zeigen Studien und die Erfahrung der Berater*innen.
Zwei Gesprächspartner*innen – eine/r von ihnen in einer schwierigen Lebenssituation – begegnen einander am Telefon, über das (Zu-)Hören. Ein Mensch ist ganz Ohr für die Nöte und Sorgen eines anderen. In kürzester Zeit entsteht ein intensiver Kontakt, der es Menschen ermöglicht, in Krisen neuen Halt zu finden. Wenn jemand aufmerksam zuhört, versteht und neue Wege aufzeigt, ist das entlastend, hilft beim Finden neuer Perspektiven und fängt in der Krise auf.
Diese besondere Beratungssituation ohne Face-to-face-Kontakt ist seit 50 Jahren das Markenzeichen der TelefonSeelsorge Oberösterreich. „Hier hört ein Mensch“ ist das Leitwort der ökumenischen Beratungseinrichtung, das sich auch durch die neue Werbelinie zieht. Bei einer Pressekonferenz am 30. September 2016 im Oö. Presseclub schilderten Mag.a Silvia Breitwieser, die Leiterin der TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142, ihre Stellvertreterin Mag.a Barbara Lanzerstorfer-Holzner und Univ.-Prof. Dr. mult. Hilarion G. Petzold, u. a. Psychotherapeut, Begründer der „Integrativen Therapie“ und wissenschaftlicher Leiter der Europäischen Akademie für biopsychosoziale Gesundheit Hückeswagen, wie Telefonberatung aus der Krise hilft.
Krisenhilfe, Lebenshilfe und Lebensoptimierung über das Telefon
Univ.-Prof. Dr. mult. Hilarion G. Petzold ist emeritierter Ordinarius für Psychologie, klinische Bewegungstherapie und Psychomotorik (Amsterdam), Philosophie (Paris); Psychotherapeut, Begründer der „Integrativen Therapie“, wissenschaftlicher Leiter der Europäischen Akademie für biopsychosoziale Gesundheit Hückeswagen und wissenschaftlicher Leiter des Studiengangs „Supervision“ an der Donau-Universität Krems. Er erläuterte zunächst die Umstände, unter denen Menschen in belastende Situationen geraten. Petzold diagnostizierte eine „allgemein überstresste Zeit“: Brexit, Euro-Krise und tägliche Schreckensmeldungen in den Medien gingen den Menschen unter die Haut. „Nur merken sie das ihrer Hektik und Getriebenheit nicht“, so Petzold. Diese Drucksituation führe zu einem allgemeinen Klima der Belastung und zu einer diffusen Angst. „Dieses Gefühl des Bedrohtseins stärkt die Sorge für das Eigene und verstärkt gleichzeitig die Abgrenzung“, erläuterte der Wissenschaftler.
Hinzu kämen persönliche Belastungssituationen wie Scheidung oder Trennung, Verlust des Arbeitsplatzes, Kinder in der Pubertät, Mobbing oder eine Krebsdiagnose. Gerade in Großstädten bzw. an der Peripherie würden soziale Netzwerke wie Nachbar*innen oder Freund*innen zunehmend schwächer. „Früher war der wichtigste Schutzfaktor bei Frauen die beste Freundin, der man alles erzählen kann – aber das nimmt ab“, analysierte Petzold. Die Menschen seien zwar nach wie vor bereit zu helfen, aber die Kraft zur Hilfe halte nicht so lang vor, weil viele selbst mehrfach belastet seien. Die Hemmschwelle, sich professionelle Hilfe zu holen, sei hoch: „Man ist ja schließlich kein Fall für den Psychiater oder die ‚Klapsmühle‘. Was dann noch bleibt, sind die Hilfsangebote der öffentlichen Hand – und die TelefonSeelsorge“.
Petzold nannte drei Aufgaben der TelefonSeelsorge: Krisenhilfe, Lebenshilfe und Lebensoptimierung. Bei TelefonSeelsorge denke man sehr rasch an Beratung in schweren Krisen bis hin zu suizidalen Krisen. Diese Aufgabe mache aber nur einen Bruchteil der Arbeit der Telefonberatung aus, so Petzold. Menschen bräuchten darüber hinaus bei schleichenden Dauerbelastungen Lebenshilfe. „In solchen Situationen braucht man guten Rat – und der sollte dann auch nicht teuer sein“, so Petzold in Anspielung auf das kostenlose Angebot der TelefonSeelsorge.
Das dritte Angebot sieht der Psychotherapeut in der Lebensoptimierung in guten Zeiten. Wenn etwa Freund*innen gerade nicht greifbar seien, sei es durchaus sinnvoll, mit einem Berater oder einer Beraterin am Telefon die eigene Lebenssituation zu besprechen – einfach zur Psychohygiene oder etwa als Burn-out-Prophylaxe.
Beratung sei zunächst eine kommunikative Grundkompetenz des Menschen und müsse nicht erlernt werden. „Schon Kinder im Kindergarten helfen einander weiter oder ein Mädchen im Teenie-Alter tröstet die Freundin beim ersten Liebeskummer“, veranschaulichte Petzold. Bei der TelefonSeelsorge sehe man den Menschen am anderen Ende der Leitung nicht, es gebe aber dennoch ein visuelles Moment, weil die Stimme des anderen ein Bild von der Person vor dem inneren Auge erstehen lasse. Das Nicht-Sehen lasse „feinhöriger“ werden, betonte Petzold: Durch das intensive Zuhören und Hinhören auf die Stimme könne man feinste Informationen über Stimmung, Gemütslage und Situation des anderen Menschen heraushören. „Der Ton macht die Musik“, zitierte Petzold ein bekanntes Sprichwort. Diese Feinhörigkeit werde in der Ausbildung von TelefonberaterInnen geschult.
Die Forschung zur Telefonberatung zeige, dass diese keine geringere Wirksamkeit habe als Face-to-face-Beratung – sofern es sich um „normale Störungen“ wie Krisen nach Todesfällen oder Depressionen handle. Auch die Abbruchquote sei bei der Telefonberatung (20 %) geringer als bei Face-to-face-Therapien (30 %). Nachfolgeuntersuchungen zufolge hätte die Face-to-face-Beratung eine etwas höhere Nachhaltigkeit. „Der Eindruck, der etwa durch Mimik und Gestik entsteht, ist hier entscheidend“, so Petzold. Körperliche Berührung und Gesten des Trostes bzw. der Unterstützung seien wichtig, am Hörer aber nicht möglich. „Bei der Telefonberatung wird die Stimme des Beraters oder der Beraterin wärmer und tiefer – das Gegenüber hört das und entspannt sich.“ Schwere psychische Erkrankungen wie eine Borderline-Persönlichkeitsstörung oder eine Psychose könne durch die Telefonberatung nicht stabilisiert werden, hier brauche es die Face-to-Face-Beratung, unterstrich der Psychotherapeut. Die TelefonSeelsorge könne aber eine hilfreiche Ergänzung für die Betroffenen sein, etwa während des Urlaubs von Therapeut*innen.
„Hier hört ein Mensch“ – mit voller Aufmerksamkeit
Mag.a Barbara Lanzerstorfer-Holzner, stellvertretende Leiterin der TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142, stellte das Leitwort „Hier hört ein Mensch“ der TelefonSeelsorge vor, das sich auch durch die neue Werbelinie zieht. Hören sei zunächst für die meisten Menschen eine Selbstverständlichkeit. In der heutigen schnelllebigen Zeit, in der Multitasking zum Alltag gehöre, sei echtes Zuhören aber eine Kunst, so Lanzerstorfer-Holzner. Häufiger als Zuhören sei ein „Mithören“ oder „Nebenbei-Hören“, während man eine E-Mail tippe, an die Kinder denke oder in Gedanken eine Einkaufsliste erstelle. „Die Beratung der Telefonseelsorge bietet ein rares Gut: Da ist jemand, der nichts anderes tut als zuzuhören – mit voller Aufmerksamkeit, mit beiden Ohren, mit allen Sinnen.“ Menschen hätten so die Gelegenheit, sich alles von der Seele zu reden – und das sofort, denn: „Wenn ich nicht mehr kann, weil mein Kind schon eine Stunde brüllt und sich nicht beruhigen lässt, dann mag ich nicht vier Wochen auf einen Beratungstermin warten – dann brauche ich sofort Hilfe“, schildert Lanzerstorfer-Holzner eine typische Alltagssituation überlasteter Eltern. Dabei gehe es nicht darum, schnelle Lösungen präsentiert zu bekommen, sondern angehört und ernstgenommen zu werden. Wenn man über ein Problem reden könne, würden sich Gedanken und Gefühle ordnen, die Emotionen könnten sich herunterregulieren und oft würden auch schon kleine Perspektiven für ein Weitermachen sichtbar.
Mag.a Silvia Breitwieser, Leiterin der TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142, erläuterte, wann die TelefonSeelsorge besonders in Anspruch genommen wird. „Nicht nur zu Weihnachten oder in der dunklen Jahreszeit, wie man vielleicht meinen könnte, sondern häufig auch im Frühling und in der Urlaubszeit. Im Frühling bricht überall das neue Leben auf, verliebte Menschen gehen Hand in Hand – wenn jemand dann bei sich merkt, dass er nicht mitkann mit diesem Aufbruch, weil etwa die Depression immer noch da ist, drückt das auf die Seele.“ Auch in der Urlaubszeit mit ihrer Leichtigkeit könne die eigene Situation besonders belastend sein, weiß Breitwieser. In Bezug auf die Tageszeit sei der Abend die Zeit mit den meisten Anrufen, weshalb die TelefonSeelsorge abends immer doppelt besetzt sei. Nach einem anstrengenden Tag mit den eigenen Sorgen allein in den vier Wänden zu sitzen, lasse viele zum Hörer greifen. Und es sei für die Anrufer*innen gut zu wissen: Hier hört ein Mensch.
50 Jahre TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142: Themen, Entwicklungen, Fakten
Die TelefonSeelsorge ist eine ökumenische Einrichtung und wird von Katholischer Kirche und Evangelischer Kirche in Oberösterreich getragen. Sie ist kostenlos, anonym und steht rund um die Uhr zur Verfügung.
Ursprünglich als Suizidpräventionshotline 1966 ins Leben gerufen, steht bei der TelefonSeelsorge in den vergangenen Jahren immer mehr das Leben in all seinen Facetten im Mittelpunkt der Anrufe. Es geht um Beziehung, Einsamkeit, psychische und physische Erkrankungen, Ängste, materielle oder berufliche Sorgen, Tod, Trauer, Verlust …. Die drei größten Themenschwerpunkte der Gespräche der letzten Jahre sind Beziehung/Partnerschaft/Familie, psychische Erkrankungen (werden in den letzten Jahren mehr) sowie Lebensumbrüche/Krisen (Trennung, Jobverlust etc.).
Die Nummer 142 wird zu 60 Prozent von Frauen und zu knapp 40 Prozent von Männern gewählt. 50 Prozent der Anrufenden sind zwischen 40 und 60 Jahre alt.
Als „sozialer Seismograph" reagiert die TelefonSeelsorge auf gesellschaftliche Veränderungen und Entwicklungen mit neuen Angeboten. So wurde im Jahr 2012 das ElternTelefon etabliert, da Erziehung und Elternschaft Themen waren und sind, die zu Verunsicherung sowie Überforderung führen können. Auch an den Wandel der Kommunikationsmittel und -kanäle passt sich die TelefonSeelsorge an: 2012 startete die Onlineberatung.
Das Angebot der TelefonSeelsorge erfährt seit ihrer Gründung steigende Nachfrage. So gab es 1968 1.528 telefonische Kontakte, 53 briefliche und 960 persönliche. Im Jahr 1976 waren es 3.313 telefonische, 54 briefliche und 1.022 persönliche Kontakte. Im Jahr 1996 wurde die TelefonSeelsorge per Telefon 7.822 Mal, per Brief 20 Mal und persönlich 320 Mal kontaktiert. Im April 1998 erhielt die TelefonSeelsorge mit der Nummer 142 eine Notrufnummer, die Anrufe sind seither kostenlos und gebührenfrei. 2015 zeigt die Statistik mehr als 20.000 Telefongespräche und 436 Mailkontakte.
Diese steigende Nachfrage und die neuen Schwerpunkte wirken sich auch auf die Anzahl der Mitarbeiter*innen aus. So versahen im Jahr 1966 vier Frauen und neun Männer (davon drei hauptamtliche Mitarbeiter*innen) Dienst in der TelefonSeelsorge, 1976 waren es schon 11 Frauen und 12 Männer (davon drei hauptamtliche Mitarbeiter*innen). Derzeit sind in der TelefonSeelsorge Oberösterreich 75 ehrenamtliche Mitarbeiter*innen, 18 Auszubildende und fünf hauptamtliche Mitarbeiter*innen tätig.
Ausführliche Statements zu 50 Jahre TelefonSeelsorge und zu den aktuellen Entwicklungen und Forschungsergebnissen finden Sie hier.