"Ich will SO nicht mehr weiter leben!"
In der Folge finden Sie wichtige Informationen und Hinweise für einen hilfreichen Umgang mit Betroffenen und Angehörigen von Betroffenen.
Suizidalität ist nicht per se eine Krankheit, ein Suizid ist aber oft Abschluss einer krankhaften Entwicklung.
Es gibt Hinweise, dass ein hoher Prozentsatz der Menschen, die sich das Leben nehmen in den Wochen und Monaten davor an einer Depression oder an einer anderen schweren psychischen Erkrankung gelitten haben. Symptome einer Depression können so belastend sein, dass der/die Betroffene sie nicht mehr aushalten kann.
Grundsätzlich kann jeder Mensch Suizidgedanken entwickeln oder suizidale Handlungen setzen. Suizidalität ist für den Betroffenen eine sinnvolle Funktion (Versuch einer Lösung, Appell, Entlastung,) und ist immer ein Notsignal.
Dieses Signal zu entschlüsseln und die dahinter stehende Not zugänglich werden zu lassen, sie auch verstehbar werden zu lassen, ist ein wichtiger Teil der gemeinsamen Arbeit in Krisenintervention und längerfristiger Begleitung in einer Psychotherapie oder professionelle Beratungseinrichtung. Auch die Teilnahme in einer Selbsthilfegruppe kann für Betroffene sehr hilfreich sein.
Für viele Krisen und Herausforderungen des Lebens reicht die eigene Erfahrung aus, um auftretende Schwierigkeiten meistern zu können. Manchmal versagen bei Krisen jedoch die gewohnten Lösungsstrategien. Die Situation führt zu einer sogenannten "Einengung" bei dem/der Betroffenen, eine Lähmung der gesamten Energie tritt auf und die Kraft zum Handeln fehlt.
Angst und seelischer Druck belasten in dieser Situation zusätzlich. Aus dem Wunsch heraus, die Belastungssituation zu beenden, können Suizidgedanken entstehen. Die Suizidgefahr wird akut, wenn keine Hilfe erreichbar ist.
Viele Menschen sprechen im Vorfeld über ihre Suizidabsichten, nicht immer ganz direkt. Wenn jemand das Gefühl hat, dass im eigenen Umfeld jemand suizidgefährdet ist, sollte dies mit einfachen Worten angesprochen werden. Dabei kann es nicht um ein Moralisieren mit Vorwürfen gehen, vielmehr um ein Signalisieren von Offenheit, Verständnis und Hilfsbereitschaft. Nur liebevolle Gespräche können entlasten. Die Annahme, wonach das Reden über einen möglichen Suizid die Gefahr dafür erhöht, ist absolut unzutreffend.
Befindlichkeiten und Signale von Menschen mit Suizidgefährdung
Die aktuelle Befindlichkeit ist wohl das wichtigste Kriterium für das Erkennen und Beurteilen der Suizidalität einer Person. Das Erleben und Verhalten suizidaler und depressiver Menschen überschneidet sich in hohem Maße. Ein Großteil der folgenden Merkmale trifft für beide Befindlichkeiten zu:
- Gefühle der Niedergeschlagenheit und Resignation
- Hilf- und Hoffnungslosigkeit
- Fehlen von Perspektiven und Sinn im Leben
- Ohnmacht und Verzweiflung
- Interesse- und Freudlosigkeit
- vermindertes Selbstwertgefühl
- Schuldgefühle und Gefühle des Ungenügens
- Selbstvorwürfe und Selbstbestrafungstendenzen
- Ärger und Wut, insbesonders wenn diese Gefühle unterdrückt bzw. gegen die eigene Person gerichtet werden
- ausgeprägte Verminderung oder deutliche Steigerung des Antriebs
- massive Angst- und Unruhezustände
- gravierende Schlafstörungen
- anhaltendes und quälendes Grübeln
- wahnhaftes Erleben (bes. Schuld-, Versündigungs-, Untergangs- und Verfolgungswahn)
- akustische Halluzinationen (bes. beschimpfende, anklagende und zum Suizid auffordernde Stimmen)
Auch den Signalen, die Menschen in suizidalen Krisen häufig aussenden, kommt eine wichtige Bedeutung bei der Einschätzung der Gefährdung zu. Sie kommen bis zu 75 Prozent im Vorfeld suizidaler Handlungen vor. Es sind zu unterscheiden:
- Verbale und nonverbale Hinweise
- Angaben von Betroffenen über Haltungen, Verhaltensweisen und Erlebnissen
Indirekte sprachliche Hinweise auf suizidale Krisen:
- "Ich falle jedem zur Last."
- "Ich mache das nicht mehr mit."
- "Ich möchte, dass alles aufhört."
- "Ich schaffe das nicht mehr."
- "Wenn ich einmal nicht mehr da bin"
- "Mein ganzes Leben ist sinnlos geworden."
- "Manchmal möchte ich nur noch schlafen."
- "Es gibt auch noch einen anderen Weg."
- "Wenn ich meinen Glauben nicht hätte, hätte ich schon längst aufgegeben."
- "Ich will einfach Ruhe haben, nichts mehr hören und sehen."
Frustrierte psychische Bedürfnisse werden angesprochen oder der Wunsch nach Ruhe/Pause/Unterbrechung wird thematisiert.
weitere Signale können sein:
- Menschen berichten von Sturz-, Selbstvernichtungs-, Katastrophenträumen
- Menschen machen sich um ihren Nachlass Gedanken und Kontakte bekommen den Charakter von Abschiedsgesten
- Klagen über unspezifische körperliche oder seelische Störungen der Befindlichkeit oder über diffuse psychosoziale Probleme
- Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Gesundheit
- Riskantes Verhalten im Straßenverkehr
- Betreiben von Risikosportarten
- Häufung von Unfällen aller Art
Sehr häufig entwickelt sich Suizidalität über einen längeren Zeitraum, häufig über Wochen bis Monate. Das eröffnet Möglichkeiten zur Vorbeugung. Der Ablauf ist dabei in vielen Fällen recht charakteristisch. Zwei Psychiater, Erwin Ringel und Walter Pöldinger, haben diesen Verlauf modellhaft beschrieben:
Das Präsuizidale Syndrom (Ringel)
Beschreibt einen inneren Zustand/Befindlichkeit mit einer Dynamik der Einengung, die, wenn sie nicht durchbrochen wird, auf den Suizid hinsteuert.
Das präsuizidale Syndrom ist charakterisiert durch:
- Zunehmende Einengung
- Gehemmt Aggression
- Selbstmordphantasien
Diese drei psychischen Komponenten können gleichzeitig, aber auch nacheinander auftreten. Sie beeinflussen einander im Sinne einer Verstärkung.
Zunächst kommt es zu einer immer stärkeren Einengung im Erleben der eigenen Person und der Umwelt. Darunter ist insbesonders ein Verlust von Denk- und Verhaltensmöglichkeiten zu verstehen, der sich vorwiegend als Resignation, Rückzug und Abnahme sozialer Kontakte bis hin zur Vereinsamung äußert.
Weiters entstehen aggressive Gefühle und Impulse, die sich aufstauen und sich überwiegend gegen die eigene Person richten.
Schließlich treten Suizidfantasien auf, die zunächst bewusst herbeigeführt werden, sich dann aber aufdrängen können. Solche gegen den eigenen Willen auftretende Fantasien sind als besonders gefährlich einzuschätzen-
Suizidale Entwicklung (Pöldinger)
Pöldinger unterscheidet in seinem Konzept suizidaler Krisen drei Phasen:
Erwägen = Suizid als Möglichkeit
Abwägen = Suizid ja od. nein (Ambivalenz, Gottesurteil)
Entschluss = Suizid ja
Im Stadium der Erwägung wird der Suizid als Problemlösung ernsthaft in Betracht gezogen. Hierbei können suizidale Handlungen im sozialen Umfeld und Berichte in den Medien durchaus bahnend wirken.
Das darauf folgende Stadium der Ambivalenz ist durch Unschlüssigkeit und wechselnde Distanzierungsfähigkeit im Hinblick auf suizidales Erleben und Verhalten gekennzeichnet. In dieser Phase gehen von dem/r Betroffenen häufig direkte Hilferufe aus und er/sie sucht vermehrt Kontakt zu anderen Menschen.
Das Stadium des Entschlusses schließlich geht mit allenfalls indirekten Äußerungen von Suizidalität sowie sehr häufig mit einem plötzlichen Verschwinden von Verzweiflung und Unruhe einher. Die betroffenen Menschen wirken dann recht ausgeglichen und abgeklärt, was von der Umgebung häufig falsch eingeschätzt wird, nämlich als Abklingen oder Ende der suizidalen Krise. Dieses Phänomen wird auch als "Ruhe vor dem Sturm" bezeichnet. Die Betroffenen haben die Ambivalenz hinter sich gelassen und den Entschluss zur Ausführung einer suizidalen Handlung bereits gefasst. Hier gilt es besonders aufmerksam zu sein!
HINWEIS:
- Suizid-Gedanken bedeuten noch nicht Suizid-Absicht
- Suizid-Absicht ist noch kein unwiderruflicher Entschluss
Wie kann einem suizidgefährdeten Menschen in seiner Not geholfen werden?
- In Beziehung treten mit einem Menschen der psychisch leidet, ihm zuvorderst mitmenschlich begegnen nicht wegschauen und übergehen.
- Ein echtes Beziehungsangebot ermöglicht Halt, Selbstachtung, Hoffnung.
- Offenes Ansprechen der Sorge um ihn/um sie
Man kann die Situation nur verbessern helfen, wenn man dem Betroffenen gegenüber die Sorge um ihn ganz ehrlich anspricht.
- Diese mitmenschliche Hilfe beinhaltet auch die Chance, den Betroffenen zu motivieren, Hilfe, auch professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
- In kritischen Situationen à Organisieren von professioneller Hilfe
Helfen bedeutet nicht, für alles und jedes die Verantwortung zu übernehmen.
Wenn sie sich selber unsicher oder überfordert fühlen, kann Rat von professionellen Helfer*innen eingeholt werden für weitere notwendige Schritte.
Entsprechende zwischenmenschliche und professionelle Hilfe kann sehr viel dazu beitragen, dass der suizidgefährdete Mensch wieder einen Weg auf das Leben hin finden kann.
Es gibt sehr unterschiedliche Gründe dafür, dass Menschen in ihrem Leben an einen Punkt kommen, wo sie sich sagen: "Ich will SO nicht mehr weiter leben!"
Anlass können sogenannte "traumatische" Krisen sein, wie die Trennung von der Partnerin, der Ausbruch einer schweren Krankheit, der Verlust des Arbeitsplatzes, der Tod eines/r geliebten Angehörigen, ein Unfall,
Es kann sich aber auch um eine Lebensveränderungskrise handeln wie: Verlassen des Elternhauses, Geburt, Umzug, Arbeitslosigkeit, Pubertät, Klimakterium, Pensionierung, In diesen Fällen entsteht die Krise über einen längeren Zeitraum.
Dann gibt es die chronifizierten Krisen mit einer länger andauernden Suizidgefährdung - sehr häufig in Verbindung mit einer psychischen Erkrankung (z.B. Depression) oder einer Suchterkrankung (z.B. Alkoholismus).