Kinder ohne Anschluss?
Kinder ohne Anschluss? Ansprechpartner*innen gesucht!
Ein Projektbericht der Telefonseelsorge Österreich zu Kinder- und Jugendanrufen im Jahr 2003
1. Ausgangssituation
Seit etwa 3 Jahren erleben die Telefonseelsorge-Stellen Österreichs eine Flutwelle von Kinderanrufen. Technisch ermöglicht wurde dieses Phänomen durch die billigen Wertkarten-Handys. Aber was steckt dahinter? Wie wirkt sich diese neue Form technischer Mobilität im Schüler- und Jugendverhalten aus?
Jugendliche verwenden das Medium Telefon nicht selten als eine Art "Überdruckventil". Die Protokolle der Mitarbeiter*innen berichten von Beschimpfungen, Scherzanrufen aus dem Schulunterricht, Anrufen von Gruppen mit der Lust am Provozieren. Es wird aber auch von Anrufen berichtet, die Ausdruck der Unsicherheit, der Sprachlosigkeit, der Suche nach Zuhörer*innen, nach Angenommen werden und nach Sicherheit sind.
Was sind die verschiedenen Motive bei einer Beratungseinrichtung anzurufen?
Die Tatsache, dass ein Anruf bei einer Notrufnummer keine Telefonkosten verursacht, reicht als Erklärung bei weitem nicht aus. Um eine Beraterin, einen Berater an der Strippe zu halten, ist eine innere Vorbereitung auf den Anruf, das Gespräch nötig, mit einer Gesprächsidee und Fragestellungen. Jedes Kind, jeder Jugendliche ist herausgefordert, sich ein für sie interessantes Thema zu überlegen. Was oder auch wer bestimmt diese Wahl? Warum werden ganz bestimmte Themen häufig eingebracht? Was fehlt hier an persönlichen Informationen und Wissen? Welche persönlichen, familiären oder auch gesellschaftlichen Aspekte spielen hierbei eine Rolle?
Um über diese Fragen nicht nur spekulieren zu müssen, haben sich die Telefonseelsorge Stellen Österreichs entschlossen, neben den üblichen Aufzeichnungen eine genaue Datenerhebung in den Monaten: Juni, August und Oktober 2003 durchzuführen, um mehr über die Charakteristik der Kinderanrufe zu erfahren.
2. Der Datenumfang
Österreichweit wurden in den 3 Beobachtungsmonaten 36.552 Anrufe von Kindern und Jugendlichen bis etwa 20 Jahre verzeichnet. Hochgerechnet auf das ganze Jahr ergibt das eine Zahl von etwa 150.000 Anrufen. In diesen Zahlen sind nicht alle telefonischen Kurzkontakte enthalten. Bei Serienanrufen, in denen jugendliche Gruppen oft hintereinander nur ein oder zwei (Schimpf-) Wörter ins Telefon schrieen, wurden nicht alle Einzelkontakte aufgezeichnet, sondern nur als "Serienanruf" verzeichnet.
3. Erste Thesen
(1) Viele sogenannte "Belästigungsanrufe" von Kindern und Jugendlichen haben einen gewissen Testcharakter
Vor allem Anrufer*innen in der Altergruppe zwischen 10 und 14 Jahren wollen damit neue Erfahrungen sammeln und damit verbunden auch Neugierde befriedigen. Sie wollen frühzeitig die Themen Jugendlicher und Erwachsener kennen lernen und wollen wissen, wie Berater*innen damit umgehen.
(2) Das kostenlose Telefonieren ist eine neue Form des Zeitvertreibs und der billigen Unterhaltung
Als Pausenfüller in der Schule, als Zeitvertreib in der Freizeit spielt das technische Hantieren mit dem Statussymbol "Handy" eine große Rolle.
Es muss aktiviert und ausprobiert werden. Die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten üben eine gewisse Faszination aus und verführen mitunter zu einer fast zwanghaften Betätigung in der Gruppe.
(3) Handy-Benutzer*innen setzen sich - meist unbewusst - einer sozialen Kontrolle aus
Nicht nur in den "peer-groups", sondern auch von den Eltern wird das Handy im Sinne einer Kontrolle verwendet. Man will wissen, wo sich das Kind gerade befindet und warum es nicht erreichbar war. Damit wird die effektive freie Zeit der Kinder und Jugendlichen immer stärker Bedingungen unterworfen und begrenzt. Das erzeugt mitunter Unsicherheit, Rechtfertigungsdruck, Überwachungsfrust und eine schwindende Vertrauensbasis.
Das Handy fördert aber auch eine immer schnellere Organisation und Verplanung der sogenannten Freizeit. Die Erwartung anderer, aber oft auch der eigene Anspruch, ständig erreichbar zu sein, (über-)fordert die seelische Kräfte junger Menschen.
4. Die Auswertung der Daten
4.1. Geschlechtsspezifische Unterschiede
Während das Anrufendenverhältnis bei den Erwachsenen mit zwei Drittel der Anrufe von den Frauen dominiert wird, ist das Verhältnis im Kinder- und Jugendbereich annähernd ausgeglichen (Mädchen: 52,4%, Buben: 47,6%).
Es sind jedoch altersspezifische Unterschiede erkennbar: Bei den unter 10-Jährigen überwiegen die Anrufe von Mädchen (M.: 62%, B.:38%), während sich bei den Jugendlichen über 15 Jahren das Verhältnis genau umgekehrt darstellt (siehe Tabelle im Anhang).
Hinsichtlich der Anrufzeiten lässt sich kaum Unterschiedliches feststellen.
Buben greifen in der Nacht (von 0 bis 6 Uhr) etwas öfter zum Hörer eine Feststellung, die auch bei den männlichen Erwachsenen zutrifft.
Insgesamt kamen mehr ernsthafte Gespräche mit Mädchen (2000) als mit Burschen (1200) zu Stande.
Fallbeispiele:
- Ein 8-jähriges Mädchen traut sich nicht nach Hause, weil ihre Mutter eine Packung Zigaretten gefunden hat. Eigentlich haben sie ihr gar nicht geschmeckt, sie hat sie nur gekauft und geraucht, um ihre Stellung im Freundeskreis zu heben und Anerkennung von ihren Freundinnen zu bekommen.
- Eine Gruppe von Mädchen ruft in der Nacht von einer Schulsportwoche an: "Unsere Buben haben Zoff mit den Begleitlehrern. Weil sie auch immer blöd tun müssen! Was können wir tun, damit die Stimmung wieder fein wird?"
- Zwei 14-jährige Schülerinnen haben einen Klassenkollegen beim "Kiffen" ertappt. Sie möchten ihn nicht verpetzen sondern ihm helfen, von der "Sucht" los zu kommen. "Wie sollen wir ihn darauf ansprechen?" war die zentrale Frage dieses Gesprächs.
- Es rufen Mädchen an und fragen nach der Möglichkeit sozialer Betätigung, unter anderem: "Kann ich in der Telefonseelsorge mitarbeiten?"
Thesen:
Mädchen sind früher und stärker an sozialen Themen interessiert als Buben.
Die Fallbeispiele dieser Anruferinnen zeigen, dass sie sich sehr ernsthaft mit sozialen Fragen und Inhalten auseinandersetzen, auch wenn manchmal unstimmige Zusammenhänge den "Testcharakter" erkennen lassen. In diesen Anrufen kommt das wachsende Interesse an den Themen und Problemen Erwachsener/oder älterer Jugendlicher und deren Lösungsansätzen auch dadurch zum Ausdruck, dass manche ihr Alter um einige Jahre nach oben lizitieren. Vielleicht ist dies als ein leises Vortasten an einen nächsten Entwicklungsschritt, heraus aus der schwierigen Phase der Pubertät, zu sehen.
Eingebunden zu sein und akzeptiert zu werden in einer Gruppe, einem Klassenverband sind für Buben und Mädchen wichtige Anliegen.
Dies gilt vor allem für die Gruppe der unter 10-Jährigen. Die ersten Enttäuschungen Freunde, Freundinnen betreffend kommen hier zum Ausdruck. Viele Konflikte sind verursacht von einem sehr unreflektierten, klischeehaften Verständnis von Freundschaft und Beziehung.
Die Ernsthaftigkeit der Anrufe steigt mit dem Grad der persönlichen Betroffenheit.
Wenn die eigene Sicherheit, das eigene Lebensumfeld in Gefahr ist, - etwa bei Scheidung der Eltern, Wohnungswechsel, Bedrohung durch Mitschüler*innen oder durch Erwachsene nehmen Kinder und Jugendliche gegenüber früheren Jahren auch vermehrt die Beratungsangebote am Telefon in Anspruch.
4.2 Die Themen am Telefon
4.2.1 Das Thema, das Kinder und Jugendliche am meisten bewegt ist der Wunsch nach "Selbstdarstellung" (2.513), für Buben und Mädchen in gleichem Maß (1.235 Buben : 1.278 Mädchenanrufe).
Fallbeispiele:
- Ein/e Jugendliche/r oder auch eine Gruppe ruft an mit der Frage: "Dürfen wir Ihnen etwas vorspielen und vorsingen? Und sagen Sie uns, ob wir uns damit schon bei Starmania bewerben könnten?"
- Andere möchten (selbstgeschriebene) Texte vorlesen.
- Ein Anrufer inszeniert ein Gespräch. Er wartet auf den Tonbandtext und weiß also nicht, dass er schon gehört werden kann. Er spielt aber vor seinen Freunden so, als ob er der Mitarbeiterin der Telefonseelsorge seine tolle und mutige Geschichte erzählte. Noch bevor sich diese zu Wort meldet, verabschiedet er sich und bedankt sich für das gute Gespräch. Er signalisiert seinen Freunden: "Seht her, meine Geschichte ist interessant und ich bekomme auch von dort Aufmerksamkeit!"
Thesen:
Das (kostenlose) Telefonieren ist eine neue Form, sich in einer Gruppe zu profilieren und Erwachsene zu entmachten.
Mit derben Sprüchen, Beschimpfungen, fingierten Gesprächssequenzen und Wettabsprachen versuchen jugendliche Anrufer*innen sich zu profilieren und zu imponieren. Während Buben dabei gerne mit derber Wortwahl zu "brillieren" versuchen, wählen Mädchen eher fingierte Themen, um Eindruck zu erwecken.
Die Selbstdarstellung vor allem in der Gruppe und gerade in der Phase der Pubertät ist ein wichtiges Ritual bei der Suche nach sich selbst und muss nicht zwangsläufig in aggressiven Mutproben oder in Selbstbeschädigung seinen Ausdruck finden. Jugendliche brauchen in diesem für sie schwierigen Lebensabschnitt positive Rückmeldungen zu ihrer Persönlichkeit und zu ihrem Erscheinungsbild. Wieweit nehmen die Erwachsenen diese wertschätzende Aufgabe wahr? Wieweit sind sie gerade in dieser Phase ihrer Kinder oft überfordert?
Rollenspiele am Telefon ermöglichen neue Erfahrungen in sicherer Distanz. Wie fühle ich mich etwa in der Rolle einer Schwangeren, eines Homosexuellen, eines Außenseiters und wie begegnet mir die Telefonseelsorge dabei? In die Rolle eines anderen zu schlüpfen ist eine Form von intensiver Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema.
4.2.2 Beim Thema, das am zweit häufigsten verzeichnet wurde, nämlich "Aggression", zeigt sich ein deutliches Übergewicht der männlichen Anrufer (Buben: 1.109, Mädchen: 865).
Fallbeispiel:
- Der Anrufende beginnt sofort mit einer Beschimpfung der Beraterin, des Beraters, spezielle Schimpfwörter werden "trainiert" und auf ihre Wirkung ausgelotet.
These:
In den Anrufen von Pubertierenden zeigt sich immer noch die Tendenz: Mädchen haben Probleme (und lernen sie auch früher zu artikulieren), Buben machen Probleme (und agieren sie erst mal aus).
Das männliche Rollenbild ist in einem enormen Umbruch. Wie ist der Mann der neuen Generation? Was kommt bei den Mädchen an? Wie "cool" ist Gewalt und wo beginnt sie überhaupt? Was ist nicht doch noch ein Zeichen von Selbstbewusstsein und Macht? Für alle diese Fragen bietet ein Anruf bei der Telefonseelsorge eine Möglichkeit, verschiedene Formen des Auftretens gefahrlos auszuprobieren.
4.2.3 Weitere häufig angesprochene Themen sind:
"Aufklärung/ Sexualität" (1.066)
"Freundschaft" (973)
"Partnerschaft2 (408)
"Eltern" (406).
Wenig erstaunlich ist, dass vor allem für Mädchen wichtige Themen "Schwangerschaft/ Abtreibung" (Mädchen: 248, Buben: 79) und
"Aussehen" (Mädchen: 121, Buben: 50) sind.
Überraschend hingegen die Ergebnisse zum Thema "Homosexualität"
(Buben: 133, Mädchen: 72), das sich damit als heißes Eisen für Buben herausstellte.
Fallbeispiele:
- Ein 13-jähriges Mädchen wurde von ihrem Freund verlassen, der geht jetzt mit ihrer besten Freundin. Was tun? "Ich sage ihm wie weh mein Herz tut, weil ich ihn doch so gerne habe und es ist urgemein von meiner besten Freundin so zu handeln."
- Ein 15-jähriges Mädchen ist schwanger. Seit sie es weiß lebt sie bei den Eltern ihrer besten Freundin. Zu ihren Eltern hat sie keinen Kontakt mehr. Sie weiß nicht, was sie jetzt tun soll und hat Angst, dass ihr 20-jähriger Freund bestraft wird wegen einer sexuellen Beziehung zu einer Minderjährigen.
These:
Die starke Betonung von Sexualität vor allem in den Medien (Werbung, TV, Kino, ...) erzeugt bei Kindern und Jugendlichen immer früher Handlungsstress und Gefühle der Überforderung.
Was bei Rückfragen erstaunt ist der immer noch unbefangene bis verantwortungslose Umgang im intimen Kontakt (keine Verhütung) und ein immer noch großes Unwissen oder Halbwissen über körperliche Vorgänge und über die unterschiedliche Gefühls- und Denkwelt von Männern und Frauen.
5. Streiflichter zu Problemlagen kindlicher Anrufe
Nicht alles was in Anrufen von Kindern und Jugendlichen an berührenden Problemen zur Sprache kommt und was sich an Lebenswelten eröffnet, wird in einer statistischen Erhebung und Analyse sichtbar. Entweder fallen diese Themen zahlenmäßig nicht so stark ins Gewicht oder es fehlten die entsprechenden Kategorien in der Erfassung. Die inhaltliche Auswertung von Gesprächsprotokollen gibt dazu noch ergänzende Aufschlüsse.
Es fällt auf, dass im Vergleich zu Erwachsenen das Thema Gewalt in den Anrufen von Jugendlichen wesentlich häufiger vorkommt.
Fallbeispiele:
- Gespräch zwischen 05:32 und 7:05 Uhr:
Ein 15-jähriges Mädchen wurde vom Vater missbraucht, das Jugendamt ist schon eingeschaltet. Sie ist in ihren Gefühlen hin und her gerissen, will dem Vater nicht schaden, fühlt sich gleichzeitig gedemütigt und hat Angst, was jetzt alles auf sie zukommen wird.
- Ein 16-jähriges Mädchen ist verliebt in einen Schwarzafrikaner. Sie wird deshalb von ihrem Stiefvater geschlagen und ist tief enttäuscht, dass ihre Mutter nicht zu ihr steht. Sie ruft mehrmals an.
- Gespräch zwischen 18:50 und 19:30 Uhr:
Ein Mädchen ohne Altersangabe klagt darüber, dass es in der Familie ständig Krach gibt und Kränkungen am laufenden Band.
- Gespräch zwischen 18:40 und 18:45 Uhr:
Ein Bub wird von der Mutter geschlagen, wenn er schlechte Noten in der Schule hat.
Thesen:
Kinder sind, auch wenn sie nicht unmittelbar selbst von Gewalt betroffen sind, an dem Thema und einem Gespräch darüber sehr interessiert.
Kinder sind nicht selten Opfer von Gewalttaten in der Familie, aber auch im Kreis von Jugendlichen selbst. Sie haben zumindest ein Interesse, das Thema zur Sprache zu bringen, auch wenn es zum einen aus Angst nicht gelingt und zum anderen manche Gewaltgeschichte am Telefon eindeutig erfunden ist.
Die Anrufe zum Thema sexueller Missbrauch steigen am Freitag und am Montag an. Hier kann vermutet werden, dass die Angst und Hilflosigkeit eines Opfers, mit dem Täter Zeit verbringen zu müssen, vor dem Wochenende steigt, während es nach dem Wochenende eine Möglichkeit sucht, das Erlittene und den inneren Druck los zu werden.
Weniger dramatisch, aber dennoch bewegend, eine andere Situation:
Kinder, zwischen 10 und 14 Jahre alt, vorwiegend aus dem ländlichen Raum, sie sind nachmittags alleine zu Hause und rufen in der Telefonseelsorge an, weil sie Schulaufgaben, meist Mathematik oder Fremdsprachen, nicht allein bewältigen können. Auch nach genauem Nachfragen findet sich niemand in ihrer Umgebung, der entsprechende Unterstützung geben könnte.
6. Schlussbemerkungen
Der vorliegende Projektbericht zeigt, dass die Telefonseelsorge Österreich in einem hohen Maß von jugendlichen Anrufer*innen genützt wird. Sie ist für junge Menschen ein wichtiges Angebot geworden. Unsere Aufgabe sehen wir unter anderem darin, die von uns wahrgenommenen Problemsituationen von Jugendlichen an die Gesellschaft zurück zu melden. Neben der direkten Arbeit mit Kindern und Jugendlichen am Telefon und in der Mailberatung gehen von der Telefonseelsorge wichtige Impulse an die Einrichtungen des sozialen Netzes in Österreich aus. Unsere Hoffnung ist es, dass diese Impulse zum Wohl der Kinder und Jugendlichen wahrgenommen und auf einer breiten Basis diskutiert werden. Ziel der gemeinsamen Anstrengungen soll sein, die Rahmenbedingungen für Heranwachsende zu verbessern und damit mehr Orientierung und Sicherheit zu ermöglichen.