Weltsuizidpräventionstag 2024: Einsamkeit im Alter
V. l.: Primar Dr. Thomas Kapitany, Ärztlicher Leiter des Kriseninterventionszentrums Wien, Mag.a Silvia Breitwieser, Leiterin TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142, Mag.a Barbara Lanzerstorfer-Holzner, Referentin TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142, Mag. Klemens Hafner-Hanner, Berater bei BEZIEHUNGLEBEN.AT © Diözese Linz/Piatkowiak
Seit Mitte der 1980er-Jahre ist die Anzahl der Suizide in Österreich um mehr als 50 Prozent zurückgegangen. 2023 starben laut Statistik Austria österreichweit 1.310 Menschen durch Suizid (inklusive 98 assistierten Suiziden), in Oberösterreich waren es 232.
Ältere Menschen gehören zur Hochrisikogruppe für suizidale Handlungen. „Das Suizidrisiko steigt im Alter erheblich an und ist bei Menschen älter als 70 Jahre fast zweieinhalbmal und bei den über 85-jährigen fünfmal so hoch wie in der Durchschnittsbevölkerung. Männer sind besonders gefährdet: Bei ihnen erreiche die Steigerung sogar das Achtfache, weiß Primar Dr. Thomas Kapitany, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Psychotherapeut und Ärztlicher Leiter des Kriseninterventionszentrums Wien. Er ruft dazu auf, das Thema Altern und Sterben in den öffentlichen Diskurs einzubringen – gemäß dem Motto des diesjährigen Weltsuizidpräventionstages „Change the narrative – start the conversation“.
“Die Gruppe der Älteren wird aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung immer größer”, sagt Mag.a Silvia Breitwieser, Leiterin TelefonSeelsorge OÖ - Notruf 142. “Und Suizide treffen auch Angehörige und die Gesellschaft.”
Gründe für Suizid bzw. Suizidgedanken älterer Menschen können vielfältig sein: „Der Tod des/der Partners/in, eine lebensbedrohliche und/oder chronische Erkrankung, ein immer löchriger werdendes soziales Netz, der Verlust von Vitalität und Mobilität, die Angst davor, nicht mehr selbstbestimmt handeln zu können – das alles kann Suizidgedanken laut werden lassen. Hinzukommen können unerfüllte Lebenspläne sowie existenzielle Fragen am Lebensende“, weiß Mag.a Barbara Lanzerstorfer-Holzner, Referentin TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142. Problematisch sei mitunter auch die gesellschaftliche Sicht auf das Alter: “Derzeit wird Jugendlichkeit geradezu gehypt”, sagt Lanzerstorfer-Holzner. Das führe dazu, dass die Menschen lange jung bleiben wollen und ihr Alter verdrängen. Machen sich dann Alterserscheinungen bemerkbar, könne das ebenfalls zu Krisen führen.
Internationale Studien gehen davon aus, dass die Zahl der Suizidversuche jene der tatsächlich durch Suizid verstorbenen Personen um das 10- bis 30-fache übersteigt (DE Munck et al. 2009; Flavio et al. 2013; Kolves et al. 2013; Spittal et al. 2012). Ältere Menschen dagegen schreiten offensichtlich rascher und direkter zur vollendeten Tat – also dem Suizid. Suizidversuche im Alter nehmen in der Häufigkeit ab, sagt Primar Kapitany.
Er sieht es auch als problematisch an, dass es durch das Sterbeverfügungsgesetz zu Suiziden kommen könne, die durch adäquate Hilfestellung verhindert werden könnten und fordert daher Nachbesserungen im Begutachtungsprozess, bei dem immer zwei Ärzte involviert sind, ein. “Wir müssen als Gesellschaft das Sterben und den Tod ins Gespräch bringen”, sagt Kapitany, damit chronisch Kranke nicht glauben, dass assistierter Suizid die einzige Möglichkeit ist, dem Umfeld nicht zur Last zu fallen.
Scheu davor, Hilfe anzunehmen
Bei Suizidgedanken Hilfe und Behandlung anzunehmen, fällt Älteren - und hier vor allem den Männern - ohnehin oft schwer, vor allem wenn es um psychische Probleme geht. Allerdings gibt es Hilfsangebote, und deren Umfang wurde in den vergangenen Jahrzehnten in Österreich deutlich erweitert. „Der Ausbau von psychologisch/psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten und niederschwellig erreichbaren Angeboten der Krisenintervention“ sind für den Mediziner „nach wie vor zentrale Eckpfeiler zielführender Weiterentwicklung in diesem Bereich“. Krisenhotlines, wie etwa die TelefonSeelsorge OÖ - Notruf 142, erachtet er als ein besonders wichtiges Angebot im niederschwelligen Bereich.
BEZIEHUNGLEBEN.AT. Hilfe für Betroffene und Angehörige
Eine wichtige Anlaufstelle für Menschen in Lebenskrisen ist auch die geförderte Familienberatungsstelle BEZIEHUNGLEBEN, die in Oberösterreich 27 Beratungsstellen betreibt und im Jahr 2023 knapp 22.000 Beratungen durchgeführt hat. Dort können Betroffene und Angehörige ganz offen mit einer geschulten Person sprechen, sagt Mag. Klemens Hafner-Hanner, Leiter des Teams Familienberatung in der Diözese Linz und Berater bei BEZIEHUNGLEBEN.AT. „In einem ersten Schritt wird versucht den Druck zu lindern, um erste Maßnahmen zur Erleichterung einzuleiten. Mittelfristig werden in der Beratung neue Perspektiven mit den Betroffenen ausfindig gemacht, damit das Leben wieder an Perspektive und Sinn gewinnt“, so der Experte.
Ansprechen statt ablenken
Für ihn ist auch das Umfeld der Betroffenen wichtig: „Bei vielen Angehörigen und Freunden löst das Thema Suizid zunächst Beklemmung und Stress aus, sie können schwer damit umgehen und lenken im Gespräch auf ein anderes Thema um“, sagt Hafner-Hanner, der oftmals feststellt, dass Angehörige sich einfach überfordert fühlen, das Richtige tun wollen, aber nicht wissen, was hilfreich ist. Er rät dazu, die vorhandenen Fragen der Betroffenen offen anzusprechen.
TelefonSeelsorge: Darüber reden – rund um die Uhr
Über große Ausweglosigkeit und Verzweiflung zu sprechen, das sei, so auch Lanzerstorfer-Holzner ein erster wichtiger Schritt. Die Sorge des Umfelds darüber, dass der Suizidgedanke noch verstärkt wird, in dem man das Thema anspricht, sei unbegründet: „Menschen, die einen Suizidversuch unternommen haben, berichten später häufig, dass es rettend gewesen wäre, wenn jemand ihre Verzweiflung wahrgenommen und sie gefragt hätte, wie es ihnen geht.” Menschen mit Suizidgedanken wollen meist nicht sterben, sondern nicht so weiterleben, wie bisher. Sie suchen einen Ausweg aus einem Leid, nach einer Lösung, hält Lanzerstorfer-Holzner fest.
Die TelefonSeelsorge Notruf 142 kümmert sich seit über 55 Jahren um Hilfesuchende. Im Jahr 2023 wurden knapp 18.000 Beratungen per Telefon, Mail und Chat durchgeführt. Zu einem großen Teil sind es Frauen (70 Prozent), die sich an die geschulten Berater:innen – 103 ehrenamtliche und sieben hauptamtliche Mitarbeiter:innen - wenden. „Die Beratungsangebote der TelefonSeelsorge sind genau dafür da: niederschwellig, vertraulich, kostenlos, am Telefon rund um die Uhr und im Chat von 16 bis 23 Uhr“, betont Lanzerstorfer-Holzner.
Unterlage zum Download:
Pressemappe mit ausführlichen Statements von Primar Dr. Thomas Kapitany, Mag. Klemens-Hafner-Hanner, Mag.a Barbara Lanzerstorfer-Holzner und Mag.a Silvia Breitwieser (pdf/doc)