Weltsuizidpräventionstag 2023: Wege aus der Einsamkeit
Einsamkeit ist in unserer Gesellschaft ein Tabuthema, aber sie kann jede:n treffen. Einsame Menschen kommen sich verlassen und ausgeschlossen vor, fühlen sich unverstanden und unsichtbar. Viele schämen sich dafür, dass sie keine Freund:innen haben oder zu wenig liebenswert sind. In der Folge ziehen sie sich noch mehr zurück – ein Teufelskreis beginnt. „Mangelnde Verbundenheit, Bindung und Zuwendung machen auf lange Sicht psychisch und physisch krank“, erklärte Mag.a Silvia Breitwieser, Leiterin der TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142, im Rahmen einer Pressekonferenz am 6. September 2023 im OÖ. Presseclub. „Betroffene weisen ein erhöhtes Risiko für Depressionen, Angststörungen und Suizidgedanken auf. Sie fühlen sich von Stresssituationen und Krisen stärker bedroht“, weiß auch Mag.a Barbara Lanzerstorfer-Holzner, Referentin der TelefonSeelsorge OÖ. Wird der Leidensdruck zu groß, stellt sich die Frage, wofür es sich überhaupt noch zu leben lohnt. Dabei wollen Menschen mit Suizidgedanken meist nicht sterben, sondern nicht so weiterleben wie bisher. „Sie suchen einen Ausweg aus einem äußerst quälenden Zustand, der für sie nicht mehr zu ertragen ist. Das eigene Leben zu beenden, erscheint ihnen als einzig mögliche Lösung“, so Lanzerstorfer-Holzner.
Pressekonferenz der TelefonSeelsorge OÖ anlässlich des Weltsuizidpräventionstag
© Diözese Linz - Appenzeller
Über die Einsamkeit nachzudenken und offen für ein Gespräch zu sein, ist ein erster wichtiger Schritt. Die Beratungsangebote der TelefonSeelsorge sind genau dafür da – niederschwellig, vertraulich, kostenlos. Die Mitarbeiter:innen der TelefonSeelsorge sind am Telefon unter der Notrufnummer 142 rund um die Uhr und im Chat täglich von 16.00 bis 23.00 Uhr erreichbar. Der vertrauliche Rahmen ermöglicht es Betroffenen, über ihre Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zu reden Auch Suizidgedanken können offen und direkt thematisiert werden. Psychotherapeutin Lanzerstorfer-Holzner: „Unsere Mitarbeiter:innen nehmen sich Zeit, hören aufmerksam zu, zeigen Verständnis für die schwierige Situation und halten die Verzweiflung mit aus. Sie vermitteln den Anrufenden absolute Zugewandtheit und das Gefühl, mit ihren Problemen nicht allein zu sein. Ziel ist es, in eine hoch angespannte Situation etwas Abstand, Ruhe und Klarheit zu bringen.“
„Jeder dritte ältere und hochbetagte Mensch fühlt sich einsam“
Dass Einsamkeit krank machen kann, weiß auch Primar Dr. Christian Jagsch, Leiter der Abteilung für Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie am LKH Graz II: „Einsamkeit kann akut auftreten und schmerzhaft sein, jedoch bewältigbar bleiben – oder sich zu einem anhaltenden Zustand entwickeln und das gesamte Dasein unterminieren. Die Einsamkeit kann ein Symptom einer psychischen Störung sein, zum Beispiel bei der Depression, oder sich als eigenständige Krankheit manifestieren.“ Demgegenüber gebe es, so Jagsch, eine „gute und selbstgewählte Einsamkeit“, die durch Selbstgenügsamkeit, Kreativität und Schaffenskraft gekennzeichnet sei. Als Risikofaktoren für krankmachende Einsamkeit nannte der Experte Armut, höheres Alter, massive Trauma-Erfahrungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch, chronische Erkrankungen und Schmerzen, psychische Erkrankungen, Behinderung, Arbeitslosigkeit und Migration. „In der Altersforschung ist bekannt, dass sich jeder dritte ältere und hochbetagte Mensch einsam fühlt“, so Jagsch. Einsamkeit könne über chronische Stressreaktionen zu psychischen und körperlichen Erkrankungen führen und die Sterblichkeit erhöhen. Es könne auch der Wunsch entstehen, durch Suizid der Einsamkeit zu entfliehen.
Als Therapie gegen die Einsamkeit empfiehlt der Primar, die Kontaktmöglichkeiten zu erhöhen, die soziale Isolierung zu reduzieren, sozialen Fertigkeiten und die eigene Einsamkeitsfähigkeit zu trainieren und eine psychosoziale bzw. psychotherapeutische Betreuung und Behandlung in Anspruch zu nehmen. Das Ziel soll sein, eine hinlängliche gute Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen zu entwickeln. „Wir brauchen nicht nur andere, wir brauchen es auch, von anderen gebraucht zu werden“, so Jagsch.
In der Beratung mitfühlen, mitgehen, mit aushalten
Mit Menschen in einer Krise, die an Suizid denken, hat auch Mag. Klemens Hafner-Hanner, Leiter des Teams Familienberatung in der Diözese Linz und Berater bei BEZIEHUNGLEBEN.AT, zu tun. „Wir sprechen Suizidgedanken in der Beratung direkt an und gehen auf die Person mit ihren Fantasien konkret ein. Wir bemühen uns, Beziehung und Vertrauen herzustellen“, so Hafner-Hanner. Krisen und leidvolle Erfahrungen seien nicht zu verhindern, man könne jedoch lernen, damit umzugehen. Beratung sei eine wirksame Möglichkeit, um wieder Mut und Hoffnung zu schöpfen. „Als professionelle Begleiter:innen gehen wir verantwortlich und ernsthaft mit den mitgebrachten Themen um.“
v. l.: Mag. Klemens Hafner-Hanner, BEZIEHUNGLEBEN.AT, Teamleitung Familienberatung; Mag.a Barbara Lanzerstorfer-Holzner, Referentin TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142; Prim. Dr. Christian Jagsch, Leiter der Abteilung für Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie, LKH Graz II; Mag.a Silvia Breitwieser, Leiterin TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142.
© Diözese Linz - Appenzeller
In die Beratung kommen auch Angehörige oder Freund:innen von Menschen, die sich das Leben genommen haben. Betroffene befinden sich in einer Ausnahmesituation, die allein nicht immer gut bewältigt werden kann. Der Bekannten- und Freundeskreis weiß häufig nicht, wie damit umzugehen ist. Aus dieser Verunsicherung entsteht nicht selten Sprachlosigkeit; die Betroffenen fühlen sich alleingelassen. „Wir wollen Mut machen, dass sich die Angehörigen in den Beratungsstellen melden. Hier können sie darauf vertrauen, dass ihnen zugehört wird, dass sie nicht bewertet oder mit gut gemeinten Ratschlägen vertröstet werden“, sagt Hafner-Hanner. Die Erfahrung der Berater:innen: Es ist heilsam, wenn immer wieder über den verstorbenen Menschen gesprochen werden kann und wenn offene Fragen und Zweifel ausführlich thematisiert werden können. Hafner-Hanner: „In der Beratung können wir gemeinsam aushalten. Im Wort ‚AusHALTen‘ steckt das Wort ‚Halt‘ drinnen. Nicht Lösungen und schnelle Ratschläge sind gefragt, sondern das Mitfühlen und Mitgehen.“
Jemanden durch Suizid zu verlieren, sei eines der schwerwiegendsten Lebensereignisse – auch, weil es dabei besonders um starke Emotionen wie Schuld und Scham gehe. Nicht selten würden sich Hinterbliebene die Frage stellen: ‚Habe ich nicht doch etwas übersehen? Hätte ich etwas anders machen müssen?‘ „Das kann so weit gehen, dass Hinterbliebene gelegentlich selbst einem erhöhten Suizidrisiko ausgesetzt sind. Diese Menschen sind aber nicht krank, brauchen jedoch viel Beachtung und Unterstützung“, unterstreicht der Experte. BEZIEHUNGLEBEN.AT bietet in jedem Bezirk mindestens eine Beratungsmöglichkeit an, die Wartezeiten sind kurz, die Beratung günstig bis kostenfrei. Zusätzlich zur Beratung vor Ort gibt es die Möglichkeit der Telefon-, Online- oder Chatberatung.
Suizidabsichten immer ernst nehmen
Dass Suizidabsichten immer ernst zu nehmen sind, unterstreicht auch Barbara Lanzerstorfer-Holzner. „In jedem Fall sind sie ein Notsignal dafür, dass der bzw. die Betroffene unter einem starken Leidensdruck steht und weder ein noch aus weiß. Dieser Hilferuf sollte keinesfalls überhört werden! Suizidale Absichten oder auch ein Suizidversuch stellen keinen unwiderruflichen Entschluss dar. Hilfe ist möglich!“ Suizid sei weder ein einfaches noch ein angenehmes Gesprächsthema. Doch schon eine einfühlsame Frage nach der aktuellen Befindlichkeit und die Bereitschaft zuzuhören könnten helfen und Hoffnung geben, so die Psychotherapeutin. „Menschen, die einen Suizidversuch unternommen haben, berichten später häufig, dass es rettend gewesen wäre, wenn jemand ihre Verzweiflung wahrgenommen und sie gefragt hätte, wie es ihnen geht. Über ihre Not reden zu können, hätte sie entlastet und unter Umständen gestoppt.“
Hinweis: Fachtagung: Suizidprävention: „Lasst uns reden! Einsamkeit und Suizidgedanken“
Am 6. September 2023 findet im FORUM der OÖNachrichten eine Fachtagung zum Thema Suizidprävention und Einsamkeit statt. Im Rahmen der Fachtagung wird das Thema Einsamkeit aus der Perspektive der Suizidprävention beleuchtet. Es wird diskutiert, was Menschen brauchen, um (wieder) mit Menschen in Verbindung treten zu können, welche Auswirkungen Einsamkeit hat und welche Angebote sinnvoll sind.
Vorträge halten Assoc.-Prof. PD. Dr. Thomas Niederkrotenthaler (Med. Universität Wien) und Prim. Dr. Christian Jagsch (LKH Graz). Am Podium diskutieren Assoc.-Prof. PD. Dr. Thomas Niederkrotenthaler (Med. Universität Wien), Prim. Dr. Christian Jagsch (LKH Graz), OÄin Dr.ⁱⁿ Kathrin Raninger (Neuromed Campus Linz), Golli Marboe (Medienexperte, Journalist, Autor) und Mag.ᵃ Silvia Breitwieser (TelefonSeelsorge – Notruf 142).
Termin: Mittwoch, 6. September 2023 von 14:00 bis 17:00 Uhr | Einlass ab 13:30 Uhr.
Eine Teilnahme ist auch online möglich.
Ort: OÖNachrichten FORUM, 4010 Linz, Promenade 23
Eine Veranstaltung von BEZIEHUNGLEBEN.AT und TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142