Weltsuizidpräventionstag 2022: Aktiv werden und Hoffnung schaffen
Die globale Ausnahmesituation aktiviert neue Ängste und reaktiviert vergangene Traumata. Sie macht die eigene, aber auch die gesamtgesellschaftliche Vulnerabilität besonders spürbar und bewirkt bei vielen eine Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit. Besonders Menschen in prekären Lebenssituationen, einsame und/oder psychisch erkrankte Personen sowie Jugendliche und junge Erwachsene stehen am Rande ihrer Belastbarkeit. Das zeigen auch die Zahlen der TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142. Von Ende Februar bis Anfang September stieg die Anzahl der Beratungsgespräche per Telefon und Chat massiv an. „Sehr oft ging es dabei um Überforderung, existentielle Nöte, Hoffnungslosigkeit und Zukunftsängste. Viele Anrufer:innen befanden sich in einer extremen Krisensituation und äußerten Suizidgedanken“, berichtete Mag.a Silvia Breitwieser, Leiterin der TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142, im Rahmen einer Pressekonferenz am 9. September 2022 im OÖ. Presseclub.
v. l.: Mag.a Barbara Lanzerstorfer-Holzner, Referentin TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142;
Mag. Klemens Hafner-Hanner, BEZIEHUNGLEBEN.AT, Teamleitung Familienberatung; Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. Thomas Niederkrotenthaler, Medizinische Universität Wien, Zentrum für Public Health, Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin, Unit Suizidforschung & Mental Health Promotion; Mag.a Silvia Breitwieser, Leiterin TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142 / © Diözese Linz - Kienberger
Wenn Menschen über längere Zeit hohem Leidensdruck ausgesetzt sind und tiefe seelische Krisen durchleben, tauchen manchmal Gedanken auf wie: „Wofür lohnt es sich überhaupt noch zu leben?“, „Ich halte das nicht mehr aus!“, „Am besten wäre es, nicht mehr da zu sein.“ oder „Wenn es mich nicht gäbe, ginge es allen besser.“ „Menschen mit Suizidgedanken wollen meist nicht sterben, sondern können nicht so weiterleben wie bisher. Sie suchen einen Ausweg aus einem äußerst quälenden Zustand, der für sie nicht mehr zu ertragen ist. Das eigene Leben zu beenden, erscheint ihnen als einzig mögliche Lösung“, so Breitwieser.
Ein Teil der Suizide werde direkt oder indirekt angekündigt, erklärte Mag. Klemens Hafner-Hanner von der Familienberatung BEZIEHUNGLEBEN.AT. Sätze wie „Ich wäre froh, wenn alles vorbei wäre“ oder „Am liebsten würde ich einschlafen“ seien ein deutliches Zeichen. „Manchmal fallen solche Sätze zwischendurch. Es hilft hier, die Suizidgedanken anzusprechen, auf die Person einzugehen, und Beziehung und Vertrauen zu schaffen“, so Hafner-Hanner. Fragen nach dem „Warum“ würden wenig helfen, da sie eher einen Rechtfertigungsdruck erzeugen und damit den Beziehungsaufbau verhindern.
Mag. Klemens Hafner-Hanner, BEZIEHUNGLEBEN.AT, Teamleitung Familienberatung / Diözese Linz - Kienberger
Was kann helfen, wenn nichts mehr hilfreich erscheint?
Suizidgefährdete Menschen brauchen ein offenes Ohr, erklärte Silvia Breitwieser: „Das Wichtigste ist Reden! Es ist sinnvoll, Menschen in Krisen die Gelegenheit zu geben, sich auszusprechen. Eine Kontaktaufnahme steht meistens ein Stück im Widerspruch zur Selbsttötungsabsicht. Der Mensch in einer suizidalen Krise sucht einen anderen, der ihn versteht und seine Verzweiflung akzeptieren und ertragen kann.“ Das Bedürfnis sei groß, über die bedrückenden Gefühle und die als ausweglos empfundene Situation zu sprechen und mit allem Belastenden nicht allein zu sein, so Breitwieser.
Mag.a Silvia Breitwieser, Leiterin TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142 / © Diözese Linz - Kienberger
In die gleiche Kerbe schlug Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. Thomas Niederkrotenthaler von der Medizinischen Universität Wien: „Das Motto des heurigen Welttags ist ‚Aktiv werden und Hoffnung schaffen‘. Das bedeutet, dass jeder und jede von uns eine wichtige Rolle dabei hat, aktiv Stigmatisierung von Suizidgedanken abzubauen. Es beginnt damit, mit anderen, die eventuell Suizidgedanken haben, in Kontakt zu kommen und direkt danach zu fragen: Hast Du / Haben Sie in dieser Situation daran gedacht Dir / sich etwas anzutun?“
Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. Thomas Niederkrotenthaler, Medizinische Universität Wien, Zentrum für Public Health, Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin, Unit Suizidforschung & Mental Health Promotion / © Diözese Linz - Kienberger
Suizidprävention bedeute aber auch, integrative und psychosoziale Angebote für Menschen mit Suizidgedanken anzubieten und an diesen teilzunehmen. Dazu gehören nicht nur psychosoziale Angebote wie Kriseninterventionsstellen, Beratungen am Telefon und online sowie klinische Versorgung, sondern auch breite soziale Angebote, die nach Zeiten des „physischen Lockdowns“ soziale Vernetzung fördern und so einen essentiellen Beitrag zur psychischen Genesung und Suizidprävention leisten, empfiehlt Niederkrotenthaler. Der Experte betonte zudem die Rolle der Medien: „Hier ist es von größter Relevanz, das Thema Suizid adäquat und in seiner Komplexität aufzuzeigen, auf spekulative oder einfache Erklärungen für Suizid zu verzichten und über Präventionsangebote zu berichten.“
Die TelefonSeelsorge als erste Ansprechpartnerin in Krisensituationen
Mag.a Barbara Lanzerstorfer-Holzner, Referentin der TelefonSeelsorge OÖ, erklärte, warum gerade die TelefonSeelsorge eine geeignete Anlaufstelle für Krisensituationen ist: „Der vertrauliche Charakter des Notrufdienstes macht es möglich, dass Menschen über ihre Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit reden, die aus Scham, Schuldgefühlen, Mutlosigkeit oder Angst vor Unverständnis in ihrem Beziehungsnetz nicht angesprochen werden.“ Am Telefon und im Chat gelte es erst einmal, ruhig zu bleiben, den Schmerz und das Leid mitauszuhalten und nicht zu beschönigen oder wegzureden. „Die Berater:innen helfen in der Rolle eines mitfühlenden Zeugen dabei, über belastende Erfahrungen und widrige Lebensumstände zu sprechen. Suizidgedanken können offen und direkt thematisiert werden – ohne Bewertung bzw. Stigmatisierung“, so Lanzerstorfer-Holzner.
Mag.a Barbara Lanzerstorfer-Holzner, Referentin TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142 / Diözese Linz - Kienberger
Die Mitarbeiter:innen des amtlichen Notrufes stellen ausreichend Zeit zur Verfügung, hören aufmerksam zu, zeigen Verständnis für die schwierige Situation und vermitteln den Anrufenden so das Gefühl, mit den Problemen nicht allein zu sein. Ist so eine tragfähige Beziehung entstanden, kann über alle vorherrschenden Emotionen gesprochen werden, was zu Entlastung und Erleichterung führt. „Ziel ist es, in eine hoch angespannte Situation etwas Abstand, Ruhe und Klarheit zu bringen – den Schmerz teilen. Es geht um eine Krisenintervention mit warmem Herz, klarer Sprache und ruhiger Sachlichkeit“, ergänzte Silvia Breitwieser.
Ein generelles Ziel für jedes Beratungsgespräch sei, dass es bei den Anrufern:innen zu einer Erweiterung ihrer Möglichkeiten und Perspektiven kommt. Der Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe bestimmt auch das Tun der Telefonseelsorge. Es gehe um die Fragen: Was hält mich? Was trägt mich? Was gibt meinem Leben Sinn? Wofür bin ich dankbar? Wichtig sei es, die eigenen Ressourcen, Stärken, Möglichkeiten (Resilienzfaktoren) wieder bewusst zu machen.
„In den Gesprächen am Telefon erleben unsere Berater:innen Menschen, die sich in akuten oder chronischen Krisen befinden und die zeitweise den Zugang zu ihren Ressourcen verloren haben. Die Begegnung, ein wertschätzendes und einfühlsames Gespräch hilft oft dabei, diese ‚Quellen‘ wieder zu finden“, so Breitwieser.
Kontakt:
TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142
Chat- und Onlineberatung: www.onlineberatung-telefonseelsorge.at