"Mit brennendem Interesse für den Alltag der Menschen"
Die priesterliche Identität in der westlichen Welt befindet sich gegenwärtig in einem dynamischen Wandel ihrer konkreten kulturellen und kirchlichen Gestalt. Wer Priester ist oder sich mit dem Gedanken trägt, vielleicht Priester zu werden, für den kann die Transformation des Priesterseins ein Grund für Erschrecken oder im Gegenteil ein Grund für eine neue Faszination sein.
Erschrecken kann man aus vielen Gründen: dass die Priester so wenige werden, dass die Priester ihren angestammten Platz in der Kultur verlieren, dass die Priester so viel Vertrauen verspielt haben, dass die Priester ihre Gestaltungsmacht verlieren, dass die Priester in ihrer zölibatären Lebenskultur so angefragt sind, dass die Priester nicht wissen, wie sie die Arbeit bewältigen sollen, usw.
Mich bewegt genau an den gleichen Punkten die umgekehrte Perspektive: Wenn so viel verspielt ist, gibt es automatisch die Chance für einen neuen Anfang. Der Sturz auf den Boden der Tatsachen vermag zum Grund zu werden für eine neue Faszination an der Kraft des Priesterseins. Denn Priester nehmen ja nicht Maßstab an zeitbedingten menschlichen Konstrukten, sondern sie orientieren sich an Jesus Christus selbst, von dem sie sich in die engere Nachfolge gerufen wissen.
Der bekannte Theologe und Begleiter Christoph Theobald SJ sieht daher in der Unterbrechung des Gewohnten die Chance für ein neues und echtes Berufungsgeschehen. Gerade angesichts der schwierigen Situation der Kirche in einer säkularen Gegenwart gilt es, von dem zu sprechen, was wirklich zukunftsträchtig ist: Das neue Sich-Einlassen auf den Ruf Gottes in Jesus Christus1.
Berufung ist kein Besitz, sondern ein dynamischer Prozess. Sie wächst immer neu aus der Kraft der Aufmerksamkeit für die eigene persönliche Gottesbeziehung und den eigenen Auftrag in der Welt von heute.
Die Krise priesterlicher Identität und die Faszination der Existenz Jesu im Dienste Gottes und der Menschen können zur Schlüsselsituation werden, in der mir aufgeht: Ich habe nur ein einziges Leben. Es ist mir gegeben und erneut zur Wahl gestellt. Wenn ich jetzt die Chance ergreife, ergreife ich auch die Chance, dass mein Leben sein Versprechen mit Hilfe der Kraft Gottes halten kann!
Wenn ich als Priester gefragt werde, wo ich persönlich die Chance für eine tragfähige Vision priesterlicher Existenz sehe, erscheint mir der Verweis auf Alfred Delp angebracht. Mit einem realistischen Blick auf die so häufig irritierende Menschenvergessenheit der Kirche und mit einem visionären Blick für das, was die Menschen von Gott und seinen Jüngerinnen und Jüngern erwarten, schrieb er kurz vor seinem Tod:
„Es wird kein Mensch an die Botschaft vom Heil und vom Heiland glauben, solange wir uns nicht blutig geschunden haben im Dienst des physisch, psychisch, sozial, wirtschaftlich, sittlich oder sonst wie kranken Menschen [...] Rückkehr in die ‚Diakonie‘ habe ich gesagt. Damit meine ich das Sich-Gesellen zum Menschen in allen seinen Situationen mit der Absicht, sie meistern zu helfen, ohne anschließend irgendwo eine Spalte oder Sparte auszufüllen. Damit meine ich das Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen, um bei ihm zu sein, genau und gerade dann, wenn ihn Verlorenheit und Verstiegenheit umgeben.2
Wenn Priester im Angesicht des pastoralen Wandels ihr Priestersein als fruchtbar für die Menschen und gelingend für sich selbst erfahren möchten, dann braucht es vor allem eines: die lebendige Begegnung im Alltag in der aufsuchenden (!) Nähe zu den Menschen. Jesus selbst definiert diese Nähe diakonisch als Dienst an der Gemeinschaft im Stil der Fußwaschung (Joh 13).
Priestersein vollzieht sich als dienendes Beziehungsgeschehen mit Gott und den Menschen. Es wäre eine Sackgasse, das priesterliche Selbstverständnis als eine Frage von Funktionen im pastoralen Geschehen zu definieren, schon gar nicht als ein Bestehen auf Zuständigkeiten in exklusiven Sektoren der Pastoral oder gar auf Kommandopositionen.
Die Wirklichkeitsfülle und Lebenstiefe der eigenen Berufung erschließt sich demjenigen, der sich als Priester im Alltag absichtslos hingibt, um Gemeinschaft des Lebens zu stiften und anderen Menschen im Auftrag der Kirche zu Diensten zu sein. Zum gelingenden Leben findet der Priester im Dienst des Glückes der anderen.
Im gegenwärtigen Augenblick der Begegnung mit dem Menschen, der meine Dienste braucht, werde ich frei und entdecke: Mein Leben macht ja wirklich Sinn!
Da treten die Probleme der Kirche und der Pastoral in den Hintergrund. In den Hintergrund treten auch die unterschiedlichen Akzente in Spiritualität, Theologie, Lebensstil und Herkunft von Priestern. Entscheidend ist die alltägliche Begegnung mit den Menschen, die Priester zu ihren Nächsten machen. Die eigene Berufung entschlüsselt und entwirft sich stets neu in der beständigen Aufmerksamkeit auf die Spuren Gottes im eigenen Leben, im Leben der Anderen und im Leben der Welt.
Daraus erwächst ein grundsätzlicher Appell: Wer Priester ist oder es werden möchte, braucht dafür ein „brennendes Interesse am Alltag der Menschen“.
Für Christoph Theobald ist die Konsequenz aus einer solchen Grunddynamik eine kritische Grundsatzfrage: „Verbleibt unsere Pastoral im kirchlichen Raum der Liturgie und im Kreis sakramentaler Handlungen? Lässt sie sich über diesen Ordnungsbereich hinaus in einzelne, auf dieses Zentrum hin bezogene Sektoren aufgliedern? Wo liegt ihr grundlegendes Interesse?“ (S. 191)3. Seine Antwort ist klar: Es geht um ein absichtsloses (!) Interesse an dem beliebigen (!) Menschen, der mir im jeweiligen Augenblick begegnet: „…unabhängig davon, ob diese Person nun seine Jüngerin oder sein Jünger sein wird oder nicht“ (S. 192).4
Die Identität der Priester und ihr Lebensstil wird unter dem Kairos der Krise – hoffentlich – wieder anknüpfen am Lebensprogramm Jesu Christi. Der Sekretär der Bischofssynode in Rom Kardinal Mario Grech sagte in einem bemerkenswerten Interview zur Lage der Kirche in der Coronapandemie mit Blick auf die Zukunft:
„Wir haben eine neue Ekklesiologie, vielleicht sogar eine neue Theologie, und ein neues Modell des Dienstes entdeckt. Das bedeutet also, dass es an der Zeit ist, die notwendigen Entscheidungen zu treffen, um auf diesem neuen Modell des Dienstes aufzubauen. Es wäre Selbstmord, wenn wir nach der Pandemie zu denselben pastoralen Modellen zurückkehren, die wir bisher praktiziert haben. Wir verwenden enorme Energie darauf, die säkulare Gesellschaft zu bekehren, aber es ist wichtiger, uns selbst zu bekehren, um die pastorale Bekehrung zu erreichen, von der Papst Franziskus oft spricht. (…) Das Brechen des eucharistischen Brotes und des Wortes kann nicht geschehen, ohne das Brot mit denen zu brechen, die keines haben. Das ist Diakonie. Die Armen sind theologisch gesehen das Gesicht Christi. Ohne die Armen verliert man den Kontakt zur Wirklichkeit“ (Grech & Spandaro, 2020)5. Dies gilt besonders für Priester.
Univ.-Prof. Dr. Christoph Jacobs
Pastoralpschologie und Pastorale Soziologie
Theologische Fakultät Paderborn
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1 Christoph Theobald, Hören, wer ich sein kann. Einübungen, Ostfildern 2018.
2 A. Delp, Das Schicksal der Kirchen, in: R. Bleistein (Hg.), Alfred Delp. Gesammelte Schriften. Band IV: Aus dem Gefängnis, Frankfurt am Main 1984, 318-323.
3 Ders., 191.
4 Ders., 192.
5 Antonio Spandaro: Bishop Mario Grech: An interview with the new secretary of the Synod of Bishops (2020), in: https://www.laciviltacattolica.com/bishop-mario-grech-an-interview-with-the-new-secretary-of-the-synod-of-bishops/
Erschienen in: Unsere Brücke. Juni 2022 bis Dezember 2022, hg. v. Priesterseminar der Diözese Linz, 3-6.