Grundfähigkeiten und Voraussetzungen für den priesterlichen Dienst
Sehr geehrte Damen und Herren!
Es wäre interessant, einmal zu fragen, wie ein heiliger Karl Borromaeus zu seiner Zeit nach dem Trienter Konzil die Frage, worin denn die Grundfähigkeiten und Voraussetzungen für den priesterlichen Dienst bestehen, beantwortet hätte. Oder was uns etwa der erste Regens des Priesterseminars Linz vor 200 Jahren geantwortet hätte. Ich vermute, sie hätten uns von Fähigkeiten und Anforderungen gesprochen, wie wir sie auch heute noch in kirchlichen Dokumenten über die Priesterausbildung formuliert finden. Manches gehört durch alle Zeiten hindurch zum wesentlichen Profil priesterlichen Dienstes.
Sie wollen sich dennoch zu Beginn dieses Symposiums mit der Frage nach den Grundfähigkeiten und Voraussetzungen für den priesterlichen Dienst auseinandersetzen und zeigen damit an, dass Sie davon ausgehen, diese Frage müsse immer neu beantwortet werden, im Hinblicke nämlich auf die jeweils aktuelle Situation der Kirche und im Hinblick auf diejenigen, die sich in dieser Kirche zum priesterlichen Dienst berufen fühlen. Die Frage, die uns hier beschäftigt, kann also nicht lauten, welche Fähigkeiten und Voraussetzungen grundsätzlich und überall mit dem priesterlichen Dienst verbunden sein sollten. Dazu müssten wir einen Blick werfen in Dokumente wie Optatam totius oder Pastores dabo vobis. Sondern: Welche Fähigkeiten und Voraussetzungen sollte derjenige mitbringen, der sich heute in der kirchlichen Situation Westeuropas auf den Weg macht, Priester zu werden? Und – so will ich hinzufügen – welche Kompetenzen sollte er während seiner Ausbildung im Priesterseminar erwerben?
Lassen Sie mich zunächst aber die Fragestellung noch ein wenig problematisieren und Ihnen erläutern, warum die Frage nach den Grundfähigkeiten und Voraussetzungen keineswegs eine einfache ist. Sie konfrontiert uns nämlich mit einer mindestens dreifachen Schwierigkeit.
(1) Darüber, was für den priesterlichen Dienst hier und heute vorausgesetzt und verlangt werden soll, kann man ja sinnvoll nur dann reden, wenn man weiß, woraufhin jemand ausgebildet wird. Das Ziel bestimmt den Weg. Ein solches Ziel klar zu definieren fällt uns aber heute außerordentlich schwer. Wie soll der Priester des 21. Jahrhunderts eigentlich aussehen?
Es fällt dann nämlich auf, dass unterschiedlichste Priesterbilder nebeneinander stehen, verschiedene Theologien des Priesteramtes miteinander konkurrieren und es uns schließlich sehr schwer fällt zu sagen, was der Priester eigentlich ist: Seelsorger, Funktionär, Geistlicher, Hochwürden, Mystagoge oder Manager, Repräsentant Christi oder Repräsentant der Kirche, Archetyp oder Sozialarbeiter…
Zu Recht ist darauf hingewiesen, dass das 2. Vatikanische Konzil eine umfassende Ekklesiologie und eine Theologie des Bischofsamtes entfaltet hat, aber „selbst eine ausgereifte in sich stimmige Explikation seiner ekklesiologischen Grundaussagen auf das Priesteramt hin schuldig blieb und bleiben musste“ (Müller 2001, 131). Wo freilich das Priesterbild so undefiniert ist, das Ziel also unklar bleibt, fällt es schwer, den Weg zu diesem Ziel zu bestimmen.
(2) Eng verwoben mit dieser ersten Schwierigkeit ist eine zweite. Wir wissen nicht, wie die Zukunftsgestalt der Kirche aussehen wird. Das ist freilich keineswegs ein neues Problem. Wer sich auf den priesterlichen Dienst einlässt, lässt sich immer auf eine offene und auch ungewisse Zukunft der Kirche ein. Wer etwa in meinem Heimatbistum, dem Bistum Münster, in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Priester wurde, konnte nicht entfernt damit rechnen, schon wenige Jahre später unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur sein Amt ausüben und mit der Gefahr umgehen zu müssen, wie über 80 Mitbrüder aus dem Bistum im Konzentrationslager Dachau enden zu können.
Dennoch ist die Situation heute insofern besonders angeschärft, als wir uns derzeit in einer Phase massiven Übergangs befinden, in der eine Sozialgestalt der Kirche als Volkskirche zusammengebrochen ist und eine neue Gestalt der Kirche noch nicht erkennbar wird. Niemand von uns vermag realistisch Auskunft zu geben, wie wir in 15 Jahren als Kirche leben werden. Was wird die Diözese Linz dann prägen? Wo wird bis dahin noch mehr Altes weg brechen? Wo wird neues Leben sichtbar werden? Was wird uns dann geistlich prägen? Woraus werden wir leben? Gewiss werden auch in 15 Jahren noch die Eucharistie und die anderen Sakramente gefeiert werden? Gewiss wird auch dann das Wort verkündet werden? Aber wem? Einer kleinen Herde, einem heiligen Rest, oder wird es ein neues Erstarken geben? Wie werden die Priester leben? Allein und vereinzelt oder wird es neue Formen priesterlicher Gemeinschaft und des Zusammenlebens geben? 15 Jahre sind eine lange Zeit, in der sich viel verändert, aber sie sind auch eine sehr kurze Zeit und diejenigen, die heute ihre Ausbildung beginnen, werden dann in ihren ersten Priesterjahren sein.
Zu den Fähigkeiten eines künftigen Priesters wird es also auch gehören müssen, mit dieser Ungewissheit umgehen zu können. Für unsere Reflexion macht es aber noch einmal deutlich: Wir können die Situation der Kirche und der Gemeinden, für die Priester heute ausgebildet werden, nur sehr ungenau umschreiben.
(3) Eine dritte Schwierigkeit ganz anderer Art kommt hinzu, um die wir zwar wissen, über die wir uns aber kaum je Rechenschaft geben. Sie besteht in der simplen Tatsache, dass wir eigentlich gar keine Kenntnis darüber haben, wie Veränderung in der Ausbildung geschieht. Was in unseren Ausbildungsprogrammen ist eigentlich wirksam und warum? Wie geschieht überhaupt Lernen in der Priesterausbildung, wie persönliche Entwicklung und Reifung? Eine Spontanumfrage bei einem Symposium über Priesterausbildung in Paderborn im Jahre 2002 ergab, dass Priesterausbilder vor allem im Blick auf die menschliche Reife und das spirituelle Leben der Kandidaten Veränderungsbedarf sehen (Klasvogt 2003, 15). Wie aber Prozesse hin auf menschliche Reife oder eine geistliche Vertiefung in Gang gesetzt werden können, wissen wir kaum. Wir lassen uns in der Beantwortung dieser zentralen Frage eher von Intuitionen und impliziten Annahmen leiten. Etwa, dass die Erfahrung der Gemeinschaft eines Priesterseminars in sich einen wichtigen Lerneffekt hat. Oder dass das Erfahren der eigenen Autonomie und Verantwortung im Außensemester Selbständigkeit bewirkt. Oder etwa, dass fünf Jahre Theologiestudium bewirken könnten, dass jemand zu einer theologischen Persönlichkeit wird. Oder dass das Miteinanderleben und Einüben von geistlichem Leben im Priesterseminar wichtig sein könnte, damit jemand eine tragfähige, geistliche Persönlichkeit entwickelt. Oder aber, dass einfach die Zeit schon das ihrige Tun wird. Vielerorts ist eine propädeutische Phase eingeführt worden, es ist aber meines Wissens nirgendwo überprüft worden, ob der dadurch erwartete Veränderungseffekt auch eingetreten ist. Wir betreiben eine sehr aufwendige, sieben bis acht Jahre dauernde, Form der Ausbildung, verfügen aber kaum über wissenschaftliche Untersuchungen darüber, ob sie etwas bewirkt, was sie bewirkt, wie nachhaltig die Veränderungen sind (oder ob sie evtl. nur durch Anpassung an das System zustande gekommen sind), oder welche Ausbildungselemente welchen pädagogischen Sinn haben.
Das immer noch beste (weil umfassendste und detailierteste und nach meiner Einschätzung immer noch aktuelle) Datenmaterial in diesem Zusammenhang wurde von Rulla, Imoda und Ridick in den 80er Jahren veröffentlicht (Rulla 1986, Rulla – Imoda – Ridick 1989). Sie belegen empirisch, was wohl die meisten von Ihnen, die schon einmal in der Priesterausbildung tätig waren, ebenfalls bestätigen können: dass nämlich nicht wenige Priesterkandidaten (Rulla/Imoda/Ridick sprechen gar von 60-80%) in ihrer Ausbildung sich zwar Wissen und manche Fähigkeiten aneignen, in ihrer Persönlichkeit aber von einer mehrjährigen Ausbildung letztlich nicht berührt werden. Zentrale Motivationen, handlungsleitende Bedürfnisse, innere Konflikte, charakterliche Einseitigkeiten bleiben unverändert oder werden sogar noch akzentuiert. Gerade Letztere aber sind es, die in der konkreten pastoralen Tätigkeit häufig zu Schwierigkeiten und Konflikten in der Gemeinde führen. Wir werden also an der Frage nicht vorbeikommen, wie Priesterausbildung auch diese tieferen Dynamiken der Persönlichkeit betreffen und, wo notwendig, verwandeln und reifen lassen kann (Baumann 2004).
Nach diesen einleitenden Hinweisen, die zugleich die Grenzen unseres Diskurses aufzeigen, nun also zur eigentlichen Frage nach den Grundfähigkeiten und Voraussetzungen für den priesterlichen Dienst. An sich würde ein Blick in das Dokument des 2. Vatikanischen Konzils Optatam totius oder das nachsynodale Schreiben Pastores dabo vobis über die Priesterausbildung oder auch die entsprechenden nationalen Leitlinien der Bischofskonferenzen für die Priesterausbildung genügen, um zu bestimmen, was in menschlicher, spiritueller, pastoraler und theologischer Hinsicht an Fähigkeiten für den priesterlichen Dienst notwendig ist. Naturgemäß sind solche Dokumente sehr umfassend und um Vollständigkeit bemüht und deswegen zuweilen weniger hilfreich, wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit zu konzentrieren. Ich möchte deswegen im Folgenden nur fünf Aspekte nennen, die man in der Tat als Grundfähigkeiten bezeichnen könnte. Kompetenzen also, die sozusagen eine Basis bilden und es der Person ermöglichen sollten, sich mit einiger Flexibilität den jeweils neuen Herausforderungen und Veränderungen kreativ und adaptiv anzupassen. Naturgemäß sind solche Akzentsetzungen immer auch von persönlichen Sensibilitäten und Eindrücken geprägt. Sie entsprechen mehr oder weniger dem, was ich im Hinterkopf habe, wenn ich mit einem Bewerber spreche und überlege, ob ich ihn als Priesterkandidaten in unserer Diözese annehmen kann. Es sind die Gesichtspunkte, die ich reflektiere, wenn ich dem Bischof einen Kandidaten zur Weihe vorschlage. – Es handelt sich bei diesen Überlegungen, das möchte ich einschränkend betonen, um work in progress, nicht um fertige Einsichten.
1. Gottsucher
Die eigentlich selbstverständlichste, aber gerade deswegen zuweilen nicht genügend thematisierte Voraussetzung sei als erste genannt. Wer Priester werden will, muss ein Gottsucher sein. Natürlich kommt es selten vor, dass jemand zu Beginn seiner Priesterausbildung schon ein ausgeprägtes spirituelles Profil besitzt und ein geistliches Leben eingeübt hat. Üblicherweise ist es eher so, dass ein Priesterkandidat sich bewirbt und unterschiedlichste Gründe nennt, warum er Priester werden möchte: Er möchte für die Menschen da sein, sich in der Gemeinde – etwa in der Jugendarbeit – engagieren, hat Freude an der Liturgie, hat auf dem Weltjugendtag oder in Taize Erfahrungen mit dem Gebet gemacht. Da ist der Wunsch, mit Gott in Kontakt zu sein, das Vorbild von Priestern usw. Dieser Motivationsmix ist zunächst etwas sehr Normales und Natürliches, wenngleich er während der Ausbildung einer progressiven Klärung und – wo notwendig –Läuterung unterworfen werden sollte.
Die leitende Frage in all dem ist aber für mich: Gibt es in diesen unterschiedlichen Motivationen einen Kern, der mit Gott zu tun hat? Gibt es eine echte Erfahrung, eine Sehnsucht oder zumindest eine tiefe Ahnung Gottes? Und reicht diese hinein in die Tiefe der Existenz und der Persönlichkeit des Kandidaten? Ich halte es für hilfreich, sich etwas von den geistlichen Erlebnissen und den damit verbundenen Gefühlen erzählen zu lassen. Man bekommt dann am ehesten einen Eindruck, wie echt und tief diese Erfahrungen sind und ob es eine Art „spirituellen Persönlichkeitskern“ gibt, um den herum sich irgendwann einmal so etwas wie eine integrierte geistliche Persönlichkeit bilden kann. Freilich: Nicht alle sind spirituell hochbegabt, aber eine innere geistliche Unruhe, ein Streben nach dem magis muss doch da sein. Ohne sie wird sich so etwas wie eine geistliche Persönlichkeit nicht entwickeln können. Mein Eindruck ist, dass in einem Priesterseminar solche Gottsuche und spirituelle Sehnsucht entfaltet werden kann, aber sie kann dort nicht (wie hingegen manche Priesterausbilder hoffen) grundgelegt werden. Der spirituelle Persönlichkeitskern kann in der Ausbildung freigelegt und aufgebaut werden, aber er kann nicht „gemacht“ werden.
Ohne Gottsuche aber gibt es keine geistliche Persönlichkeit. Ohne geistliche Persönlichkeit kann man ein priesterliches Leben nicht persönlich beglückend und für andere überzeugend leben, sondern wird – nicht wenige Beispiele belegen das – Gefangener des Besitzes, falscher Beziehungen oder des eigenen Machtstrebens und damit eine Karikatur der evangelische Räte.
2. Schwierige Identität – Persönlichkeitsorientierte Priesterausbildung
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für den priesterlichen Dienst ist die Entfaltung einer stabilen personalen Identität. Nur wer eine stabile Identität besitzt, kann so etwas wie affektive Reife, Beziehungsfähigkeit, Hingabefähigkeit, Leitungs- und Führungskompetenz und gesundes Urteilsvermögen entwickeln. Identitätsbildung ist ein höchst komplexer Prozess, der natürlich vor der Priesterausbildung anfängt, während die Priesterausbildung vielfältig beeinflusst wird und Anregungen empfängt und sich noch eine lange Zeit nach der Priesterweihe fortsetzt.
Der Begriff Identität meint eine grundlegende Vertrautheit mit sich selbst und die Fähigkeit, über das eigene Denken, Handeln und Fühlen verfügen zu können, zu wissen, woher man kommt und Ziele für die Zukunft formulieren zu können. Die soziale und ökonomische Wirklichkeit der Postmoderne, in der sich junge Menschen heute vorfinden, macht aber die Bildung einer echten Identität, d. h. einer konsistenten, psychischen Innenwelt, zunehmend schwerer. Es zählen Flexibilität und Mobilität. Beständig gilt es, eigene Kompetenzen und Zugehörigkeiten neu zu definieren und den Arbeitsplatz und Wohnort zu wechseln. In einer Welt zu leben, die Instabilität und Diskontinuität nicht nur im Beruf, sondern auch in Beziehungen fördert, verlangt vom Einzelnen, sich ständig neu „entwerfen“ zu müssen (Beck 1998, Keupp 1999, Bauman 2004). Anstatt von stabiler personaler Identität spricht man heute von Patchwork-Identitäten. Unser Liquid life (Bauman 2005), unser verflüssigtes Leben führt auch zu einem formlosen Zerfließen der Persönlichkeiten. Die deutlich wahrnehmbare existentielle Unsicherheit und Entscheidungsangst vieler Menschen, die dazu führt, dass Lebensentscheidungen immer weiter hinausgeschoben werden, ist eine der Folgen. Psychische und gesamtmenschliche Entwicklungs- und Reifungsprozesse, die zuvor normalerweise mit 20 – 25 Jahren abgeschlossen waren, scheinen sich heute oft bis zum Alter von 30 Jahren oder mehr hinauszuziehen.
Wie kann angesichts dieser Situation die Priesterausbildung ein Ort sein, der im Dienst der Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung steht (Baumann 2004)?
Zunächst muss man sich bewusst machen, dass Identitätsbildung ein ambivalenter und spannungsreicher Prozess ist. Zwei Spannungen will ich hervorheben:
In einer Ersten gilt es, die Welt des Geistlichen und Religiösen mit der des Menschlichen zu vermitteln. Die religiöse Erfahrungswelt und geistliche Berufsentscheidung eines Priesterkandidaten ist ja nur ein Aspekt seiner Identität, mit dem nicht selten zahlreiche andere Lebensentwürfe und Wertekonstellationen konkurrieren, denen er in seiner Freizeit, im Freundeskreis, in den Medien, in der Familie usw. begegnet und die ihn ebenfalls oftmals bis ins Innerste seiner Persönlichkeit hinein prägen. Diese unterschiedlichen Identitäts-Versatzstücke müssen miteinander ins Gespräch gebracht werden. Sonst riskiert man, dass die geistliche Lebensentscheidung irgendwann ihre Überzeugungskraft verliert, als fremd empfunden und schließlich aufgegeben wird.
Eine zweite Spannung besteht zwischen Offenheit und Zurückgezogenheit. Identitätsprozesse brauchen zuweilen Phasen der Zurückgezogenheit und der Konzentration auf sich selbst. Darin erfahren Priesterkandidaten häufig recht gute Unterstützung und zahlreiche Hilfen (Exerzitien, geistliche Begleitung usw.). Man muss aber befürchten, dass der Prozess der Identitätsbildung rein defensiv verläuft, wenn er nicht immer wieder auch Offenheit für das Neue und die Außenwelt mit sich bringt. Ein Priesterkandidat, der sich etwa in einer binnenkirchlich-liturgischen Welt verschließt und nicht ein echtes lebendiges Interesse an dem hat, was darüber hinaus und um ihn herum in der Gesellschaft geschieht, wird – so befürchte ich – kaum als Priester den auf ihn einströmenden Herausforderungen gewachsen sein (Saffiotti 2005).
Die Frage lautete, wie die Priesterausbildung identitäts- und persönlichkeitsfördernd wirken kann. Man spricht heute häufig von „narrativer Identität“ (Keupp 1999, 207; Tapken 2002). Damit ist gemeint: Identität entsteht im Erzählen. D. h. in dem Maße, wie ich anderen mein Leben erzähle, wird es auch für mich selbst sinnvoll, schaffe ich Sinn, entsteht so etwas wie personale Identität. Die unterschiedlichen Versatzstücke meiner Identität werden narrativ zu einem sinnvollen Ganzen zusammengebaut. Hier sehe ich eine große Herausforderung an die Priesterausbildung. Priesterausbilder sollten fähig sein, solche Entwicklungsprozesse hin zu personaler Identität zu begleiten und der Person zu helfen, die darin notwendigen Suchbewegungen, Fragen und Konflikte zu verbalisieren und zu bewältigen.
Psychologen kommen heute in der Priesterausbildung immer noch nur selektiv und meist bei gravierenden Problemen zum Einsatz. Ihre Kompetenz könnte bedeutsam aber sein gerade auch im Dienste der Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung.
Zugleich sollte man sich hüten, diesen zentralen Bereich der Priesterausbildung einfach an Psychologen zu delegieren. Ich plädiere sehr dafür, Priesterausbilder für ihre Aufgabe konsequenter auszubilden und zu qualifizieren. Ein guter und bewährter Pfarrer ist nicht automatisch ein guter Priesterausbilder.
3. Liebes – und Hingabefähigkeit
Eng mit dem soeben Beschriebenen ist die dritte Kompetenz verbunden, die ich Liebes- und Hingabefähigkeit nennen möchte. Sie bildet in gewisser Weise das beobachtbare Kriterium dafür, dass ein gutes Maß an gesunder Identität erreicht ist.
Ich sagte schon, dass es zuweilen Phasen der Konzentration auf sich selbst und einer gewissen Selbstbezogenheit gibt, die durchaus normal sind und im Dienste der Persönlichkeitsentwicklung stehen. Personen, die solche Phasen durchlaufen haben, empfinden sich danach in der Regel als gereifter und sind mehr in der Lage, für andere da zu sein.
Davon zu unterscheiden ist, was Christopher Lasch (1978) eine „Kultur des Narzissmus“ genannt hat. Er sieht darin die Krankheit unserer Zeit. Gemeint ist ein Kreisen um sich selbst, ein Hang zur Selbstinszenierung und ein Besorgtsein um die eigene Person, die in der Tat wohl zu Kennzeichen der Gegenwartsgesellschaft geworden sind.
Es steht zu befürchten, dass derart selbstfixierte Menschen kaum je den anderen Menschen an ihrer Seite wirklich in den Blick nehmen (und womöglich als Priester auch ihre Gemeinde für sich selbst und ihre eigene Selbstbestärkung „missbrauchen“). Freilich verbirgt sich hinter einem solchen narzisstischen Verhalten oftmals eine sehr verletzliche und zerbrechliche Persönlichkeit, die Mitleid erregen kann und der Hilfe bedarf.
Dennoch braucht es für den priesterlichen Dienst eine Fähigkeit zur Hingabe, zur Liebe und zur Anerkennung des Anderen, die narzisstische Persönlichkeiten oftmals nicht entfalten können. Positive Zeichen der gemeinten Liebes- und Hingabefähigkeit könnten sein, dass jemand sich freiwillig für andere engagiert, Dienste übernimmt, Fremde und Neue im Blick hat, sich für andere interessiert und insgesamt eine „Kultur des Gebens“ lebt.
(4) Spiritualität der Gemeinschaft – Rekonstruktion des Presbyteriums
Auch diese vierte Fähigkeit oder Voraussetzung für den priesterlichen Dienst geht in gewisser Weise aus dem Vorhergehenden hervor. Gemeint ist die Dimension der Communio, die Befähigung zur Gemeinschaft und zum gemeinsamen Dienst.
Wir heute Priester wird, kann seinen Dienst nicht mehr in trauter, übersichtlicher Gemeinde ausüben, für die er ganz alleine zuständig ist. Er arbeitet in der Regel in komplexen, oftmals großräumigen Gebilden und mit einem großen Team von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern. Das setzt Teamfähigkeit und Kooperationsbereitschaft voraus. Dennoch möchte ich meine Überlegungen zur Communio gerade nicht auf diesen praktisch-professionellen Aspekt beschränken, wenngleich Schwächen in der „Communio-Kompetenz“ sich gerade dort sehr spürbar niederschlagen können.
Es geht mir vielmehr um etwas viel Grundlegenderes und Umfassenderes, das Johannes Paul II. in Novo Millenio Ineunte mit „Spiritualität der Gemeinschaft“ beschrieben hat.[1]
Wenn Priester Diener der Gemeinschaft und der Einheit in den Gemeinden sein sollen, müssen sie zuvor gelebte Formen gemeinschaftlichen Lebens kennen gelernt und eingeübt haben. Priester sind aber – spirituell und praktisch – häufig zu Einzelkämpfern ausgebildet, richten sich oftmals in ihrer Einsamkeit ein, leben in nur noch schwer nachvollziehbaren Gemeinschaftssituationen mit ihren Haushälterinnen oder in einer fast symbiotischen Beziehung mit ihrer Gemeinde. Vielerorts haben wir als Diözesen in den vergangenen Jahrzehnten den Individualisierungsschub der Gesellschaft bedenkenlos mitgemacht und erleben nun, dass junge Priester Gemeinschaft und gegenseitige Unterstützung zwar reklamieren, aber zugleich nicht wissen, wie sie gestaltet werden können. Sie sehnen sich nach Formen gemeinsamen Lebens und haben zugleich Angst davor.
Ich führe das – neben vielen anderen Gründen – auch darauf zurück, dass die spirituelle Dimension des „Wir“ (Hennecke 2006, 157) vielen unvertraut ist. Die „Optionen“, die die Deutsche Regentenkonferenz vor drei Jahren veröffentlich hat, sprechen von einem „Mut zur Communio“. Dort heißt es: „Jesus ruft seine Jünger zwar aus ihrer gewohnten Umgebung und Familie heraus, doch nicht, um sie danach der Isolierung auszusetzen, sondern um sie in die neue Familie der Jünger einzufügen. Deshalb darf der Priester kein Single sein. Nur ein gemeinschaftsfähiger Mensch kann teilhaben am Leben Gottes, der selbst Gemeinschaft ist. Von einem Priester wird zurecht erwartet, dass er imstande ist, Zellen des Evangeliums zu formen und Menschen zusammenzuführen. Er soll selbst gemeinschafts- und kommunikationsfähig sein. Dazu braucht er selbst eine tragende Lebens- und Glaubensgemeinschaft, die nicht einfach schon durch das Leben in einer Pfarrei mit andern Christen zusammen gegeben ist. Es bedarf vielmehr ausdrücklicher priesterlicher Gemeinschaftsformen.“ (13)
Vielleicht ist die zölibatäre Lebensgestalt auch deswegen für so wenige junge Menschen attraktiv, weil sie oftmals eher in die Einsamkeit führt und nicht in evangeliumsgemäße Formen der Gemeinschaft und gemeinsam gelebten Jüngerschaft.
Ich glaube, dass wir heute ganz neu nach Formen gemeinsamen Lebens unter Priestern und suchen müssen und halte das sogar für eine Überlebensfragen des Klerus. Es wird zwar auch in Zukunft priesterliche Einzelkämpfer geben, aber ich kann darin nicht den Normalfall und vor allem nicht eine evangeliumsgemäße Gestalt christlicher Existenz sehen. Alle Ausgestaltungen gemeinsamen Lebens (gemeinsame Freizeit, Urlaub, gemeinsamer Mittagstisch, Vita communis, usw.) setzen aber immer die Fähigkeit voraus, überhaupt anderen Menschen Anteil am eigenen Leben zu gewähren (Caelli 2000, Hegge 2004).
Ich persönlich treffe mich einmal in der Woche mit einer Gruppe von Priestern. Neben dem Gebet und dem gemeinsamen Essen widmen wir jedes Mal dem offenen Austausch über unser Leben sehr viel Zeit. Dann kommen neue Ideen, Sorgen, Wut, Misserfolge und Erlebnisse der letzten Tage zur Sprache. In diesen Gesprächen brechen oftmals unerwartete, aber dann sehr wichtige geistliche Einsichten und Antworten auf. Dieses Zusammensein in all seiner Einfachheit hat eine menschlich stützende und zugleich eminent spirituelle Funktion. Es setzt aber voraus, was ich einmal eine „Kultur des ehrlichen Gesprächs“ nennen möchte.
Eine solche Kultur des ehrlichen Gesprächs zu fördern könnte eine wichtige Aufgabe der Priesterausbildung sein.
5. Demütige Lernbereitschaft
Sie werden jetzt zu Recht die anmerken: Solche Priesterkandidaten gibt es doch gar nicht, weder bei Eintritt, noch bei der Weihe – Kandidaten, die echte Gottsucher sind, mit gefestigter Persönlichkeit, liebes- und hingabefähig, erfahren in der Gestaltung von Gemeinschaft aus dem Glauben. Natürlich gibt es die in Reinform nicht! Umso wichtiger ist eine letzte Grundvoraussetzung für den priesterlichen Dienst, nämlich demütige Lernbereitschaft. Damit ist gemeint: Realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten und die echte Bereitschaft, sich in einer Prozess des persönlichen Wachstums, der Entwicklung und der immer neuen Bekehrung und des lebenslangen Lernens zu begeben.
Eine der wichtigsten Fragen, die man sich bei der Aufnahme von Bewerbern für den priesterlichen Dienst stellen sollte, lautet: Will diese Person lernen? Ist sie bereit sich auf einen geistlichen und menschlichen Prozess einzulassen, der Infragestellung, Veränderung und inneres Wachstum bedeutet. Kontraindikative Zeichen sind Passivität, Rigidität und eine insgesamt ausgeprägt defensive Persönlichkeitsstruktur. Positiv zu werten sind hingegen Eigenschaften wie Kreativität und Offenheit für Neues, Interesse an der Welt und an sich selbst, Bereitschaft, über sich nachzudenken und sich in Frage zu stellen, sowie sich selbst ins Gespräch zu bringen (Saffiotti 2005, 19).[2]
Priesterausbildung ist im Gefolge der gesellschaftlichen pädagogischen Neuorientierung in den 60er und 70er Jahren sowie der innerkirchlichen Umbruchsituation nach dem 2. Vatikanischen Konzil häufig verstanden worden als ein Ort, an dem Kandidaten die in ihnen grundgelegten Befähigungen und Talente zum Ausdruck bringen sollten. Ausbildung als Entfaltung von etwas, das schon da ist.
Heute wird wieder klarer, dass Ausbildung darüber hinaus auch Erziehung bedeutet und Orientierung bieten muss. Priesterausbildung muss den eigenen Ausbildungsanspruch wieder entdecken und braucht – ich wiederhole es noch einmal – genügend Ausbilder und für ihre Aufgabe ausgebildete Ausbilder.
Der Kirche befindet sich in einer beispiellosen Umbruchsituation und mit ihr auch der priesterliche Dienst in der Kirche. Es sind nicht wir selbst, die die Kirche zukunftsfähig machen, sondern der Geist. An uns ist es, dafür zu sorgen, dass wir selbst und die Priesterkandidaten, die wir ausbilden, offen und bereit sein können, diesem Geist Raum zu bieten und uns von ihm leiten zu lassen.
Regens Dr. Andreas Tapken, Münster
Vortrag anlässlich des Symposiums "200 Jahre Priesterseminar Linz" am 25. Oktober 2006
[1] „Vor der Planung konkreter Initiativen gilt es, eine Spiritualität der Gemeinschaft zu fördern, indem man sie überall dort als Erziehungsprinzip herausstellt, wo man den Menschen und Christen formt, wo man die geweihten Amtsträger, die Ordensleute und Mitarbeiter in der Seelsorge ausbildet, wo man die Familien und Gemeinden aufbaut“. (Novo Millenio Ineunte, 43)
[2] Saffiotti (2005, 19) spricht in diesem Sinn von „formability“: „Formators and leadership need to be willing to discern the ‚formability’ of candidates, particularly in terms of their capacity to establish and sustain a primary intimate relationship with God and to minister to others out of that relationship, their generosity in putting the needs of others and community ahead of their own, their willingness to be formed and led and their disposition and competency for the work of justice and conversion.“
Bibliografie:
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