Der Mensch ist der Ruf Gottes
Hörer des Wortes
„Der Mensch stellt sich ... nicht etwa selbst her, so dass er sein Dasein sich selbst verdankte, sondern er verdankt sich anderen; er beginnt damit, dass er sich annimmt. So aber bildet statt Selbstherstellung die Annahme seiner selbst das Gesetz, nach dem er antritt. Annahme indessen ist der Grundvollzug von Dank, und Annahme wie Dank sind die Grundwirklichkeiten von Antwort.“ (J Splett, Zur Antwort berufen. Not und Chancen christlichen Zeugnisses heute, Frankfurt a.M. 1984, 26, mit Bezug auf Karl Marx und R. Guardini.)
Berufung ist freie, schöpferische, unableitbare Tat Gottes. Sie kann nicht vom Menschen her errechnet, nicht als Erfüllung oder gar als Echo der bloß menschlichen Sehnsüchte gedeutet werden, sondern ist immer auch Exodus aus den Feldern des Selbstverständlichen. Berufung ist daher nie schon einfach nur dem Selbstvollzug des Menschen gegeben. Sie ist Wahl der Freiheit Gottes. Nach Karl Rahner habe ich nicht nur einen Ruf oder eine Sendung durch Gott, ich bin ein Ruf Gottes, ich bin eine Sendung Gottes in der Welt. Insofern ruft Gott ins Ureigene; Berufung konstituiert menschliche Freiheit und Identität.
Zwischen Psychologie und Theologie
Übernatürliche Berufung braucht als Gegenprobe die Selbstauslegung der Freiheit und eine ihr angemessene Moral. Deshalb ist bei jedem Prozess von personaler Berufung darauf zu achten, wie frei und disponiert eine Person ist, auf Gottes Ruf zu antworten, beziehungsweise welche Motivationen, welche Faktoren oder Kräfte dabei im Spiel sind. Solche Kräfte lassen sich in zwei Grundkategorien einteilen: Motivationsfaktoren, die zur Selbsttranszendenz führen, werden unter den allgemeinen Begriff der Werte gefasst, solche, die selbstzentriert sind, unter den Begriff der Bedürfnisse. In dieser Dialektik steht auch geistliche Berufung: Es sind Werte, Ziele und Leitideen, aber auch die tatsächlichen Prägungen, Eigenschaften und Charakterzüge einer Person im Spiel. Das freie, indifferente und zur Antwort bereite Stehen vor Gott steht immer in Spannung zum Real-Ich, zu den selbstzentrierten Bedürfnissen.
Unterscheidungskriterien
Sie leben aus dem Hören des Wortes Gottes. Und sie setzen Lernbereitschaft und Korrekturfähigkeit durch andere, durch die Gemeinschaft voraus. Durch die Annahme des Rufes Gottes wird der Mensch mehr er selbst und findet zu seiner Identität. Über längere Zeit müssen sich Trost und Zuversicht einstellen. Wenn ein Ruf Gottes echt ist, so bringt er einen Zuwachs an Liebe. Wer auf den Ruf Gottes hören will, hat sich den anderen, besonders den Armen, auszusetzen, von ihnen zu lernen und bei ihnen in die Schule zu gehen. Die Annahme durch die Gemeinschaft der Kirche ist mit konstitutiv für die Echtheit einer Berufung, weil jede konkrete Berufung auf den Aufbau von Communio hingeordnet ist.
Sind alle gleich berufen?
In der Vielfalt der Berufungen wird die differenzierte Subjektwerdung in der Kirche konstituiert, in ihrer Ausrichtung auf die Einheit des Leibes stellen sie die schöpferische Macht Gottes dar.
Dr. Manfred Scheuer
Bischof von Linz
Erschienen in: Unsere Brücke. Juni 2017 bis Dezember 2017, hg. v. Priesterseminar der Diözese Linz, 2f.
Vgl.Manfred Scheuer, Der Mensch ist Ruf Gottes. Zur theologischen Grundlegung von Berufung, THPQ 150 (2002) 53-62.