Das Leben in allen Schattierungen sehen – Seelsorger:in sein in den 2010er Jahren
Warum haben Sie sich für einen „gesendeten Beruf“ entschieden?
Stefanie Hinterleitner: Tatsächlich spüre ich eine gewisse innere Berufung für diesen Beruf, die ich aber nicht ganz konkret beschreiben kann. Dass ich vom Bischof für diesen Beruf gesendet wurde und auch beauftragt bin mit der Gemeinde, für die ich mitverantwortlich bin, der Gottesfrage nachzugehen, das Evangelium zu verkünden und zu leben, das hat für mich einen sehr hohen Wert.
Wolfgang Roth: Bei mir war das keine bewusste Entscheidung, vielmehr hat es sich im Lauf der Lebensgeschichte einfach so ergeben.
Rudolf Kanzler: Ich denke auch nicht jeden Tag daran, dass ich in einem „gesendeten Beruf“ tätig bin. Ich denke es ist wie in anderen Berufen auch. Manchmal ist es mühsam, dann geht es wieder ganz leicht. Manche Aufgabe freut einen nicht so, eine andere geht wieder leicht von der Hand. In meinem Büro hängt das Sendungsdekret. Immer wieder schaue ich es mir an. Mich freut das Vertrauen der Diözese, in deren Dienst ich gerne stehe und dass ich mich gesendet fühlen darf.
Was waren die Umstände ihres Berufseinstiegs – persönlich, gesamtgesellschaftlich und kirchlich?
Kanzler: Nach dem Theologiestudium habe ich zunächst das Pastorale Einführungsjahr absolviert. Als ich im Anschluss die Stellenausschreibungen gesehen habe, wurde ich auf die Stelle in Altmünster aufmerksam. Dort zu arbeiten war für mich interessant, weil der Ort nicht allzu weit von meiner Heimat Stainach in der Steiermark entfernt ist.
Hinterleitner: Ich habe 2018 mein erstes Dienstjahr absolviert und bin im September 2019 in den kirchlichen Beruf gesendet worden. Damals habe ich auch als Pastoralassistentin in der Dompfarre begonnen. Im März 2020 zwang die Coronapandemie mit ihren vielen Lockdowns, Kontakteinschränkungen, sowie der großen Unsicherheit und Angst in der Bevölkerung zu einer völlig neuen pastoralen Herangehensweise. In der ersten Zeit der Pandemie durften keine Gottesdienste gefeiert werden oder wenn, dann mit höchsten 5 Personen. In der Karwoche und zu Ostern fanden keine Gottesdienste statt. Die brennende Osterkerze im leeren Mariendom ist mir bis heute in Erinnerung. Es galt neue Wege in der Kommunikation zu finden. Diese lagen – wie wir alle wissen – vorwiegend im digitalen Raum. Aber ich fand auch kreative Formen, durch die anhand kleiner Zeichen Verbundenheit geschaffen wurde. Einigen Menschen hat der Sonntagsgottesdienst gefehlt und sie haben begonnen zuhause als „Hauskirche“ zu feiern. Für diese Menschen haben wir auf unserer Website Vorschläge angeboten. Ich habe zusätzlich auch online zu einem Sonntag.Abend.Gebet eingeladen. Auch bei diesen Formaten waren einige Menschen anwesend. So konnte die Verbundenheit und der Kontakt aufrecht erhalten bleiben. Die Coronapandemie war eine unglaubliche Herausforderung für die Pastoral und Seelsorge, gleichzeitig aber auch für mich persönlich ein enormer Kreativschub.
Der gesellschaftliche Bedeutungsverlust von Kirche und die damit einhergehenden Folgen, wie etwa Mitgliederschwund, finanzielle Herausforderungen und Nachwuchsprobleme begleitet mich seit Beginn meiner Arbeit in der Diözese. Ich habe das Gefühl, ich gehe von einem Strukturprozess in den nächsten bzw. laufen viele Prozesse auch parallel ab. Dies ist oft kräfteraubend. Umso wichtiger ist es, dass man sich da immer wieder „Auszeiten“ nimmt, damit man sich nicht verliert und sich auch der persönlichen Gottesbeziehung widmen kann.
Roth: Ich empfand die Umstände zu meinem Berufseintritt als stabiler als derzeit. Dennoch standen die Vorzeichen schon in Richtung großer kultureller Herausforderungen, die mit Vertrauensverlust, gesellschaftlicher Entsolidarisierung und irrationalem Individualismus einhergehen.
Welche Aufgaben haben Sie vorrangig übernommen?
Roth: Die Taufpastoral, sowie die Jugend- und Firmpastoral, Bildungsarbeit und Trauerbegleitung. Das heißt unterm Strich darf ich das Leben in seiner gesamten Vielfalt zur Sprache bringen.
Kanzler: Bei mir gehörten auch die Klassiker Kinder- und Jugendpastoral sowie Firmvorbereitung zu meinen Aufgaben. Jedoch haben sich mit der Zeit – ich bin jetzt elf Jahre in Altmünster – die Aufgaben erweitert, verschoben und auch nach persönlichen Schwerpunkten verändert.
Hinterleitner: In der Dompfarre gehört ebenfalls die Kinder- und Jugendpastoral zu meinen vorrangigen Aufgaben. Außerdem leite ich Wort-Gottes-Feiern und bin alle vier bis fünf Wochen als Predigerin eingeteilt.
Wie sah es mit der Akzeptanz durch Kleriker und die Pfarrbevölkerung aus?
Kanzler: In Altmünster gibt es seit dem Ende der 1980er Jahre Pastoralassistent:innen, somit ist die „Rolle“ bekannt. Von priesterlicher Seite wurde ich von Anfang an auch sehr gut aufgenommen und in die gesamte Breite des seelsorglichen Alltags involviert. Auch die Taufe gehörte von Anfang an ganz selbstverständlich zu meinen Aufgaben.
Hinterleitner: In einer Bischofskirche muss man als hauptamtliche Seelsorgerin seinen Platz erst finden. Dies war zu Beginn etwas herausfordernd. Da gab es so viele Fragen: Wo stehe ich? Wo sitze ich? Welche Aufgaben übernehme ich? Ich glaube aber, dass es mir recht schnell gelungen ist, einen für mich guten, stimmigen und präsenten Platz zu finden. Dies liegt bestimmt auch daran, dass ich mit Dompfarrer Maximilian Strasser sehr gut zusammenarbeiten kann und die Kommunikationsbasis stimmt. Für ihn war es immer wichtig, dass auch in der Dompfarre und im Mariendom Pastoralassistent:innen wirken.
Roth: Grundsätzlich hatte ich immer das Glück in einem Team auf Augenhöhe ohne Standesdünkel arbeiten zu dürfen. Auch von Seiten der Pfarrbevölkerung kommt mir zum überwiegenden Teil große Wertschätzung und Dankbarkeit entgegen. Aber wo Menschen sind, menschelt es halt auch.
Was waren die persönlichen, kirchlichen, pastoralen und gesellschaftlichen Herausforderungen in den ersten Jahren Ihrer Berufstätigkeit?
Kanzler: Als ich begonnen habe, waren die Ausläufer des Bekanntwerdens der vielen Missbrauchsfälle im Jahr 2010 noch spürbar. Dann war 2015 die Flüchtlingskrise ein großes Thema bei uns, weil der damalige Pfarrer einer Frau Kirchenasyl gegen die Abschiebung gewährte. Damals war Altmünster plötzlich im medialen Interesse. 2018 hatten wir einen Pfarrerwechsel und es war für mich durchaus interessant zu sehen, wie so eine Übergabe läuft. In der Übergangszeit, als kein Pfarrer vor Ort war, bekam ich zwar nicht offiziell die Leitung, doch es brauchte jemanden, der die Rolle des Pfarrleiters übernimmt und Ansprechperson für alles ist. So hatte ich eine gute und umfassende Kenntnis der Gegebenheiten. Zugleich erlebte ich damals auch eine Spannung, einen gewissen Erfahrungs- und Wissensvorsprung gegenüber meinem neuen Dienstvorgesetzten zu haben. Der Schritt in die zweite Reihe fiel mir dann aber leicht. Obwohl die Rolle des:der Pastoralassistent:in bzw. des:der Seelsorger:in in der zweiten Reihe immer ein Balanceakt zwischen einbringen und zurücknehmen ist. Aber es ist ähnlich, wie im Orchester, die zweiten und dritten Stimmen machen die Melodie erst interessant.
Hinterleitner: Ich persönlich genieße die flexiblen Arbeitszeiten. Gleichzeitig ist es aber auch eine Herausforderung, besonders die vielen Wochenend- und Feiertagsdienste mit Beziehung und Familie zu vereinbaren. Hier muss man eine gute Balance finden und auch lernen, dass man nicht immer überall dabei sein muss.
Roth: Ich durchlebte im zweiten Arbeitsjahr eine schwere depressive Episode, in der ich vieles neu und anders lernen musste. Insgesamt hat mich diese Erfahrung gelassener werden lassen und mich gelehrt, meine Grenzen, hinsichtlich dem eigenen Einfluss, auf die kirchlichen, pastoralen und gesellschaftlichen Herausforderungen, zu akzeptieren. Locker bleiben, aber nicht locker lassen – lautet in vielem mein derzeitiges Credo.
Welche kirchlichen Themen haben Sie in den ersten Jahren beschäftigt?
Kanzler: Für mich war es das Hineinwachsen in die Seelsorge. Mit 25 Jahren habe ich in Innsbruck begonnen und bin dann nach Oberösterreich gewechselt. Ich war für viele immer „der junge Pfarrer“ und bin es nach wie vor – immerhin bleibt man in der Kirche ja lange jung. Mittlerweile merke ich, dass ich von vielen geschätzt bin und es berührt mich sehr, Kinder, die ich vor Jahren getauft habe, nun bei der Erstkommunion zu sehen oder ihnen im Kontext der Schulpastoral in der Unterstufe zu begegnen. Mittlerweile sind es viele Geschichten einzelner, die mich mit der Geschichte des Ortes verbinden und aus dem anfangs fremden Ort ein Daheim gemacht haben.
Hinterleitner: Der derzeitige Umstrukturierungsprozess innerhalb der Diözese betrifft auch das Selbstverständnis der Seelsorger:innen. Ich bin Vorsitzende der Berufsgemeinschaft der Seelsorger:innen in Pfarren und hier beschäftigt uns der Wandel des Berufsbildes sehr intensiv. Unsere Aufgabe wird es vermehrt sein, Ehrenamtliche zu begleiten und zu ermächtigen, in der Pastoral und Seelsorge vor Ort Aufgaben und Verantwortung übernehmen zu können. Dies erfordert eine hohe Kommunikations- und Konfliktfähigkeit und auch, dass man sich selbst zurücknehmen kann. Ebenso erfordert es aber auch, dass man sehr wachsam in den Gemeinden ist und dort aktiv wird, wo es nötig ist.
Roth: Trotz des Versuches, diesen Prozess als „Neuwerdung“ zu deuten, schmerzt mich die Erfahrung einer „sterbenden“ Kirche und die hohen Austrittszahlen.
Was schätzen Sie an Ihrem Beruf? Oder anders gefragt: Was ist das Schöne am Beruf Seelsorger:in?
Kanzler: Das Schöne ist, das Leben in allen Schattierungen sehen zu können. Ich darf von der Wiege bis zur Bahre viele schöne Feiern mit Menschen gestalten und erleben und für andere da sein. Zugleich bekommt man auch so viel zurück.
Hinterleitner: Ich schätze auch die Vielfältigkeit an meinem Beruf und dass ich mit so vielen unterschiedlichen Menschen zusammenarbeiten darf. Für mich persönlich ist es auch schön, Menschen an entscheidenden Lebenspunkten zu begleiten, etwa bei den Sakramenten. Wenn ich merke, dass sich ein Paar beim gemeinsamen Vorbereiten einer Segensfeier noch besser kennenlernt oder ein trauernder Mensch nach einem Gespräch mit etwas mehr Boden unter den Füßen den Raum verlässt, dann spüre ich, dass mein Beruf doch auch Sinn macht.
Ich schätze aber auch die Diözese Linz als Arbeitgeberin mit ihren sozialen Leistungen und dass ihr die Weiterbildung und Entwicklung der Mitarbeiter:innen ein großes Anliegen ist. Ebenso ist die Diözese um Partizipation der Mitarbeiter:innen bemüht, etwa bei Entscheidungen hinsichtlich der Ausrichtung der Diözese, so erlebe ich es jedenfalls in verschiedenen Gremien.
Roth: Es ist nicht nur ein Beruf ist, sondern eine Lebensform. Ich darf das tun, was ich bin.
Warum würden Sie einer Person, die überlegt Seelsorger:in zu werden, diesen Beruf heute noch empfehlen?
Kanzler: Es sind die Gespräche mit einzelnen Menschen, die für mich viel von dem ausmachen, was Seelsorge bedeutet. So viel Schönes und Berührendes erlebe ich da. Von diesen schönsten Bildern gibt es keine Fotos.
Es ist ein schöner Beruf, der voraussetzt, den:die andere:n in seinem:ihrem So-Sein anzunehmen und zwar, wirklich anzunehmen. Es ist ein Beruf, der auch Abgrenzung verlangt und uns ins Spannungsfeld vom Tun und Lassen stellt. Der uns Grenzen des Machbaren zeigt. Nicht alles wird, soll und muss nach dem Bild funktionieren, das ich habe. Und das ist auch gut so. Ich würde den Beruf empfehlen, weil es schön ist, miteinander auf der Spur des Glaubens unterwegs zu sein und miteinander die Feste des Glaubens und des Lebens zu feiern, wie sie fallen. Im Vertrauen, dass das Wesentliche in anderen Händen liegt.
Stefanie Hinterleitner ist 33 Jahre alt und als Seelsorgerin in der zukünftigen neuen Pfarre Linz-Mitte in den Pfarrgemeinden Dompfarre und St. Martin am Römerberg tätig.
Rudolf Kanzler ist 38 Jahre alt und im Seelsorgeraum Altmünster tätig.
Wolfgang Roth ist 36 Jahre alt und Pastoralassistent in der Pfarre Freistadt, sowie im Dekanat Freistadt als Beauftragter für Jugendpastoral tätig.
Das Interview führte Melanie Wurzer.