Mittwoch 28. August 2024

Pfarrkirche Pichl bei Wels Hl. Martin

 

Gedenkort von Bibiana Weber 2005

 

Das Gedenkzeichen an der Nordseite des Turmes der Pfarrkirche erinnert an 13 Säuglinge, die im Herbst 1944 verstarben. Sie waren als Kinder von Zwangsarbeiterinnen aus der Umgebung in dem von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt gegründeten Fremdvölkischen Kinderheim im Schloss Etzelsdorf untergebracht. Ausgangspunkt für die Gestaltung war ein altes, traditionelles Kinderspiel: das Fadenspiel. Unterhalb des Turmfensters führen 24 Metall-Fäden bis zum Boden. Die Seile sind am Rand der Gedenkplatte mit den eingravierten Namen der in Etzelsdorf verstorbenen Kinder befestigt. Zugleich umschließen sie den von der in Pichl lebenden Künstlerin Bibiana Weber ausgewählten Text „Herbstzeitlosen“ von H. M. Opaska. Das fragile Fadenspiel weist nach oben, in den Himmel; es ist aber auch fest im Boden verankert.

 

Die Kinder von Schloss Etzelsdorf
Undurchtrennbare Fäden der Erinnerung

 

 Pfarrkirche Pichl bei Wels Hl. Martin. © Kunstreferat

 

Schloss Etzelsdorf, ein stattlicher, zweigeschossiger Bau über rechteckigem Grundriss, wurde im ausgehenden 17. Jahrhundert errichtet und befindet sich in der gleichnamigen Ortschaft am westlichen Ortsrand von Pichl/Wels. Berichtet werden soll hier allerdings nicht von seiner Baugeschichte, sondern von den Ereignissen, die sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in seinen stummen Mauern abgespielt haben. Seit August 1944 wurden dort, im „Fremdvölkischen Kinderheim Schloss Etzelsdorf“, Kinder von Zwangsarbeiterinnen aus der Umgebung untergebracht. Die Babys wurden bereits kurze Zeit nach der Geburt, manchmal schon am ersten Tag, ihren Müttern entzogen. 38 Kinder lebten dort bis Jahresende 1944. Man hat die Kinder zwar ernährt und sie am Leben erhalten, sie erhielten aber minimale Zuwendung. So war es auch nicht üblich, sie mit Namen anzusprechen. Mindestens 13 verstarben noch im gleichen Jahr. Namenlos wurden sie damals auch auf dem Ortsfriedhof begraben. Durch die Errichtung eines Gedenkzeichens wurde ihnen, 61 Jahre nach ihrem kurzen, trostlosen Leben, ein würdevolles Gedenken zuteil.

 

Ans Tageslicht kam die Geschichte per Zufall – während einer Geburtstagsfeier fernab der Gemeinde. Der in Pichl beheimatete Journalist und Theologe Martin Kranzl-Greinecker war Tischnachbar der 80-jährigen Jubilarin. Bald fragte sie nach seiner Herkunft. Das Stichwort Pichl lieferte ihr den Anknüpfungspunkt, von ihren Erinnerungen zu erzählen: Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete sie als  Magd auf einem dem Schloss nahe gelegenen Bauernhof. So schilderte sie die Begebenheiten, die sich damals im Schloss zugetragen hatten. Kranzl-Greinecker war verblüfft, als gebürtiger Pichler über Jahrzehnte hinweg nie ein Wort von dieser Schattenseite der Ortsgeschichte gehört zu haben. 


2001 begann er mit seinen Recherchen und beförderte vieles wieder ans Licht. Am berührendsten waren für Kranzl-Greinecker die Gespräche mit drei der überlebenden Etzelsdorfer Kinder. Ihre Suche nach Identität hat ihn tief bewegt und war für ihn eine Triebfeder, weiterzuforschen.

 

Für die Pfarre und Gemeinde Pichl stand fest, dass mit diesem Teil der Historie des Ortes ein entsprechender Umgang gefunden werden musste. „Für mich war einfach klar: Wenn das eine Sache ist, die sich in unserem Ort zugetragen hat, ist es wichtig, dass dem nachgegangen wird, dass es in unserer Verantwortung liegt, mit diesen Tatsachen umzugehen, daran zu erinnern und ein würdiges Gedenken an die Kinder zu ermöglichen“, so Pfarrassistentin Veronika Kitzmüller. Dieses Erinnern erwies sich in dem Prozess des Recherchierens, der Informationsvermittlung, der Vorbereitung der Gedenkfeier und der Segnung des Gedenkzeichens nicht immer als einfach.

 

Das Gedenkzeichen ist für Pfarrassistentin Veronika Kitzmüller auch eine Form, mit Erinnerung und Gedenken bewusst umzugehen. „Für mich war immer klar, dass wir nicht irgendwo eine Tafel anbringen oder einen Stein hinstellen, sondern dass es am Friedhof ein Gedenkzeichen oder eine Gedenkstätte – eine Art symbolisches Grab – geben wird.“ Die Vorbereitungen wurden von Pfarre und Gemeinde gemeinsam getragen. Zur Gestaltung des Gedenkzeichens wurden drei in Pichl beheimatete Kunstschaffende eingeladen. Überzeugt hat die Jury das Modell von Bibiana Weber. Für Weber, die im Jahr 2000 ihr Studium an der Kunstuniversität Linz in der Meisterklasse Metall bei Prof. Helmut Gsöllpointner abgeschlossen hat, war es nicht die erste künstlerische Auseinandersetzung mit der Thematik Tod und Erinnerung.


Bereits in ihrem Diplomprojekt spielte die Auseinandersetzung mit dem Tod eine wesentliche Rolle. Als „Zugereiste“ im Ort war es für sie Herausforderung und Anerkennung zugleich, zur Mitarbeit an diesem besonderen Projekt angesprochen zu werden.


„Mein erster Gedanke war, dass hier Babys gestorben sind und das Zeichen zur Erinnerung etwas Leichtes, Weißes werden muss. Es sollte etwas Schwebendes werden.“ Ausgangspunkt für ihre Überlegungen war ein altes, traditionelles Kinderspiel: das Fadenspiel.


Der Platz und seine Architektur, also das barocke Kirchengebäude und der umlaufende Friedhof, waren Ausgangsbasis für die räumliche Situierung. Als Ort des Gedenkens wurde der Bereich des nordwestlichen Turmunterbaus am Übergang zum Langhaus gewählt. Zwischen dem unteren Turmfenster und einer Gedenkplatte auf dem Boden hat die Künstlerin 24 Seile aus Chrom-Nickel-Stahl gespannt. Eine besondere Eigenschaft, die das Material für das Gedenken auszeichnet, ist seine Beständigkeit. Wie die mahnende Erinnerung an die Geschichte werden die Fäden somit die Zeit überdauern. Es scheint, als würden sie einen transparenten, geschützten Raum einschließen. Die Seile umlaufen den Rand der Gedenkplatte und umschließen den von der Künstlerin ausgewählten Text „Herbstzeitlosen“ von H.M. Opaska:

 

HERBSTZEITLOSEN
GEWESENES AUSATMEN
ERINNERN VERGESSEN
NUR DASEIN UND IRGENDWO FÄDEN SPANNEN
IN EIN NEUES.
ALTES WAR ZU TIEF IN WORTE GEFALLEN
UND TRÄNEN GESCHAHEN, 
DIE SICH VERLOREN
IM HERBST-ZEITLOSEN-LICHT

 

Am umlaufenden Rand der Gedenkplatte befinden sich die Namen der 13, damals namenlos begrabenen Kinder mit ihren Geburts- und Todesdaten. Unter den vielen Menschen, die sich zur Segnung des Gedenkzeichens am 2. November 2005 in Pichl einfanden, waren auch eine Delegation aus Polen und drei der insgesamt knapp 80 Kinder, die ins „Fremdvölkische Kinderheim Schloss Etzelsdorf“ kamen. Sowohl Jerzy W., der in Polen lebt, als auch die in Oberösterreich beheimatete Katharina B. suchten Zeit ihres Lebens nach ihrer Herkunft und ihren Eltern.


Wie in den Jahrzehnten des Schweigens über die Geschehnisse im Schloss deckt im Winter ein Schneeteppich die Gedenkplatte am Boden zu – doch die Fäden der Erinnerung glänzen unbeirrbar in der Wintersonne. Die Verbindung zur Geschichte und mit ihr die Erinnerung kann, das symbolisieren die feinen und doch undurchtrennbaren Stahlseile, nicht mehr abgeschnitten werden.

 

Die 53 Seiten umfassende, mit Schwarz-Weiß-Bildern versehene Broschüre „Die Kinder von Etzelsdorf“ von Martin Kranzl-Greinecker ist 2005 im Verlag Denkmayr erschienen. Die Ereignisse rund um das Schloss während der NS-Zeit werden in einer berührenden, doch immer auch wissenschaftlich-objektiven Weise geschildert. 
 

Martina Gelsinger

OÖ Kulturbericht 2/2006 

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