crowning
Die Turmkapelle West im Linzer Mariendom wird anlässlich des 100-jährigen Weihejubiläums 2024 zum Kunstraum. Im Rahmen der Reihe „Künstlerische Positionen zur Heiligen Familie“ ist aktuell die Skulptur crowning von Esther Strauß zu sehen.
In raumbezogenen Arbeiten greifen acht Künstlerinnen — jeweils ausgehend von ihrer persönlichen künstlerischen Praxis — gegenwärtige Entwicklungen und Herausforderungen zu Themen rund um Frauenrollen, Familienbilder und Geschlechtergerechtigkeit auf. Die Reihe wird von Dr.in Martina Gelsinger, Kunsthistorikerin im Fachbereich Kunst und Kultur der Diözese Linz, kuratiert.
crowning — Skulptur greift Leerstelle der Geburt Christi auf
Die in Wien und Tirol lebende Künstlerin Esther Strauß zeigt auf einem Sockel, der in der Mitte des Raumes steht, die Skulptur einer auf einem Fels sitzenden, gebärenden Frau. Das Werk nimmt Bezug auf die 1913 von Sebastian Osterrieder fertiggestellte Krippe im Mariendom, die mit 40 Figuren aus Lindenholz zu den größten Krippenszenerien der Welt zählt. Esther Strauß, die sich in ihrer künstlerischen Arbeit gezielt Lücken und Geheimnissen widmet, greift mit der Figur crowning rund 110 Jahre nach der Fertigstellung der Krippe die Leerstelle der Geburt Christi aus feministischer Perspektive auf. Zu den zwei Marienfiguren, die Teil der Domkrippe sind – der knienden Maria mit gefalteten Händen neben dem Kind in der Krippe, die am Heiligen Abend aufgestellt wird und der sitzenden Maria mit dem Jesuskind auf dem Schoß, die zu Dreikönig erscheint – schuf Esther Strauß eine dritte Marienfigur: die gebärende Maria. „Vielleicht ist Maria die Frau auf der Welt, von der es am meisten Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen gibt; es müssen Abertausende sein. Der Großteil dieser Abbilder wurde von Männern gemacht. Wieso sticht unter ihnen genau jenes Abbild heraus, das fehlt? Die Geburt, die Millionen von Menschen am 24. Dezember feiern, findet sich auf keinem Gemälde und in keiner Skulptur wieder. Wenn von der Geburt Christi die Rede ist, stellen wir uns ein Kind in einer Krippe vor, aber nicht seine Mutter, die es zur Welt bringt.“, so die Künstlerin, die gleichzeitig Fragen in den Raum stellt: „Hat das damit zu tun, dass – wie die Kunstwissenschaftlerin Ann-Katrin Günzel schreibt – die Mutter-Göttinnen der Frühzeit sich im Christentum ‚in die eine a-sexuelle Muttergottes verwandelt haben‘, die als ‚ein neues Idealbild der Mutter bzw. der Frau den patriarchalen Machtverhältnissen dient‘? Dass gleichzeitig die ‚gewaltige schöpferische Fertigkeit der Frau auf eine nicht weiter nennenswerte biologische Fähigkeit der Geburt reduziert wurde, diese Stärke zugleich zur Schwäche erklärend, indem Geburt und Care-Arbeit aus dem Fortschrittsdenken nicht nur ausgeklammert, sondern ihm geradezu entgegengesetzt und damit an den Rand gedrängt‘ wurden?“
Die Figur crowning ist in einem sieben Monate dauernden Prozess des Ringens um Form und Ausdruck in Zusammenarbeit mit zwei weiteren Künstlerinnen entstanden. Die Bildhauerin Theresa Limberger hat die Figur geschnitzt und bemalt, bevor sie von der Künstlerin und Restauratorin Klara Kohler patiniert wurde. Die „dritte“ Maria knüpft in Aspekten wie Kleidung und Hände an die beiden historischen Marienfiguren der Krippe an, ist in ihrer Wirkung und Ausstrahlung dennoch eine andere: „Die dritte Maria ist ganz bei sich. Sie steht im Zentrum ihrer Kraft – und auch im Zentrum ihrer Unabhängigkeit.“, so Esther Strauß.
Die Theolog*innen Mag.a Martina Resch (Katholischen Privat-Universität Linz) und Dr. Andreas Telser (Universität Wien) gingen bei der Eröffnung am 27. Juni 2024 in ihrer Einführung zur Ausstellung auf den theologischen Hintergrund der Arbeit ein. "Damit ein Kind geboren werden kann, bedarf es eines physischen, aber auch emotionalen „Weitens“. Im Englischen wird das Wort ‚crowning‘ für jenen Moment verwendet, in dem die Weitung am größten ist und der Kopf des Neugeborenen sichtbar wird. Esther Strauß eröffnet einen bis dato unbedachten, ja ausgesparten Blick auf Maria als Gebärende. Dies ist theologisch bedeutsam, als das Ankommen Gottes im Menschen Jesus von Nazareth auf die menschliche Stärke und Erdverbundenheit Marias im Moment der Geburt und darüber hinaus angewiesen ist und bleibt.", so Telser. „Die Arbeit ist ein starkes Bekenntnis zur Menschwerdung Gottes. Die Heilsgeschichte beginnt nicht erst mit Jesus, sondern mit der Verkündigung, und wird in dem Moment, wo neues Leben geboren wird, anschaulich.", erklärt Martina Resch.
Dr.in Maria Reitter-Kollmann, Kunstwissenschaftlerin und Obfrau des Linzer Diözesan-kunstvereins, stellte die ikonografische Tradition im Umfeld der Geburt Christi – die Darstellungen von Maria in der Hoffnung, Maria im Wochenbett und die stillende Maria – vor. Nach dem Konzil von Ephesos, 431, und der dogmatischen Bestätigung von Maria als Gottesgebärerin, als ‚theotokos‘, wurde Maria in der byzantinischen Kunst als Liegefigur mit dem Kind dargestellt. Die emotionale Beziehung zwischen Mutter und Kind tritt erst im 13. Jahrhundert in Erscheinung. „Mit der sehr behutsam dargestellten gebärenden Maria theotokos von Esther Strauß kann die Leerstelle in der Geburtsgrotte der Krippe im Mariendom – in der Vorstellung der Betrachter:innen - ab heute gefüllt werden.“, so die Kunstwissenschaftlerin bei der Eröffnung.
Über die Künstlerin Esther Strauß
Esther Strauß, geboren 1986, ist Performance- und Sprachkünstlerin mit den Schwerpunkten Erinnerungsarbeit, performative Denkmäler und Ritualdesign. In der Nacherzählung ihrer Performances in Galerien und Büchern setzt Strauß gezielt Lücken und Geheimnisse ein; das, was ihre Performances verbergen, ist ebenso wichtig, wie das, was sie preisgeben. Von 2005 bis 2011 studierte Strauß Bildende Kunst und Kulturwissenschaften an den Kunstuniversitäten Linz und Bristol, seither zeigte sie Performances, Ausstellungen und Labore unter anderem im Sigmund Freud Museum London, Perdu Amsterdam, Fabbrica del Vapore Mailand, OK Linz oder im La Marelle Marseille. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den RLB Kunstpreis 2023, den Paul Flora Preis 2022 und den Theodor Körner Preis 2020. Seit 2015 lehrt Strauß Sprachkunst an der Kunstuniversität Linz. Zum Linzer Mariendom hat die Künstlerin eine besondere Beziehung: sie zog 2008 als erste Turmeremitin in die Türmerstube ein.
Die künstlerischen Positionen sind ein Teil der Veranstaltungsreihe DonnaStage anlässlich der 100-jährigen Weihe des Mariendoms. Diese macht den Dom und das neue Domcenter zum Aushandlungsort für zeitgenössische Fragen nach Frauenrollen, Familienbildern und Geschlechtergerechtigkeit.
Die Skulptur crowning ist bis 16. Juli 2024 im Kunstraum (Turmkapelle West) zu den Öffnungszeiten des Mariendoms zu besichtigen (8.00 bis 19.00 Uhr).