Aus der Hoffnung leben
Vor ein paar Wochen habe ich „Frühstück bei mir“ mit Tristan und Matthias Horx (zwei Zukunftsforscher – Vater und Sohn) gehört. Zukunftsforscher find ich irgendwie einen witzigen Beruf – in biblischen Zeiten hätte man die zwei wohl „Propheten“ genannt. Stell ich mir auch witzig vor: Jesaja und Micha auf Ö3 bei „Frühstück bei mir“.
"Reset" wird uns zugemutet
Naja, normalerweise bin ich an einem Sonntag um diese Zeit im Dom und feiere Gottesdienst und plaudere beim Pfarrkaffee. An diesem Tag nicht. An diesem Sonntag sitz ich am Frühstückstisch und höre der Claudia Stöckl und ihren Gästen zu. Da ist viel die Rede von Chance in der Krise und Veränderung unseres gewohnten Lebens. Dass es gut tut einmal alles etwas runter zu fahren, einmal eine Auszeit zu nehmen. Später sieht man die Welt mit anderen Augen. Man schätzt die Bewegungsfreiheit, den Duft aus den Restaurants, Kaffees und Bars in den Straßen, Umarmungen, nette Worte der Nachbarin. All diese Dinge können passieren, wenn man mal den Resetknopf drückt. Und dieses Reset wird uns gerade zugemutet.
Über Selbstverständliches nachdenken
Diese aktuelle Unterbrechung unseres gewohnten Alltags gibt uns tatsächlich die Möglichkeit, über Selbstverständliches nachzudenken. Ich glaube, in einer Krise geht es ganz stark ums Leben. Was brauchen wir zum Leben? Diese Frage stellen sich gerade viele Menschen und besinnen sich auf ganz wesentliche Dinge. Nahrung, Dach über dem Kopf, soziale Beziehungen, Freiraum, Gespräche … Klopapier anscheinend auch, aber das zähl ich da jetzt nicht dazu ;). Aus diesen Fragen können neue Utopien für die Zukunft entstehen. Ich lese gerade ein Buch von Rutger Bregman, in dem er schreibt, ein Problem unserer Zeit scheine zu sein, dass es uns an Utopien fehlt. Dass wir uns keine bessere Welt als die, die wir jetzt haben, vorstellen können. Das hindert uns am Fortschritt, denn „wirklicher Fortschritt beginnt mit etwas, das keine Wissensökonomie erzeugen kann: mit einem Verständnis dessen, was es bedeutet, gut zu leben."1 Hier sei festgehalten, dass Utopien keine fertigen Antworten oder endgültige Lösungen liefern, aber sie werfen einige richtige Fragen auf.2
Was fehlt
Stellen wir uns die Frage: Was heißt, gut zu leben? In dieser Krise bekommen wir vielleicht eine Ahnung davon, was es bedeutet kann. Wir merken, wie sehr uns körperliche Nähe fehlen kann. Wie lebensnotwendig wir Kontakte, Berührungen und Nähe brauchen. Soziale Medien, Telefon und Videochats können uns diese Sehnsucht etwas erleichtern. Ganz stillen können sie sie aber nicht.
"Wir merken, wie sehr uns körperliche Nähe fehlen kann." (c) sweetlouise / pixabay.com
Utopien
Die Frage nach fair bezahlter Arbeit fällt in ein neues Licht, weil wir merken, unter welchen Umständen Menschen arbeiten, die unser Grundversorgungssystem aufrechterhalten, und wie sehr wir diese Arbeiter und Arbeiterinnen brauchen.
Ebenso bekommen wir zu spüren, was es bedeutet, wenn Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Wenn ich nicht mehr überall hingehen kann, wo ich will. Wenn ich nicht mehr entscheide, wen ich besuchen darf und wen nicht. Wenn ich nur mehr selten außer Haus gehen darf.
Das sind nur ein paar Gedanken, über die man nachdenken kann, wenn es um die Frage nach einem guten Leben geht. Ich glaube tatsächlich, dass diese Krise neue Utopien hervorbringen kann und ich glaube, dass das für uns als Gesellschaft lebensnotwendig ist.
So wie Rutger Bregman glaub ich auch, dass unsere Gegenwart nicht total schlecht ist, sie ist sogar eine ziemlich gute. Aber es ist eine freudlose, wenn wir nicht darauf hoffen dürfen, dass es in der Zukunft besser sein wird.3 Der britische Philosoph Bertrand Russell schrieb: „Der Mensch braucht zu seinem Glück nicht nur diesen oder jenen Genuss, sondern Hoffnung, neue Unternehmungen und Veränderung."4
Womöglich geht es nach der Krise besser weiter
Ich glaube, dass wir gerade ganz stark aus einer Hoffnung heraus leben und handeln. Aus der Hoffnung, dass es nach der Krise weitergeht. Gar nicht so wie bisher, sondern womöglich besser und lebensförderlicher. Das ist etwas zutiefst Christliches meine ich. Glauben heißt für mich, aus der Hoffnung zu leben. Vielleicht ist es auch eine utopische Hoffnung, jedenfalls ist es eine, die trägt. Jetzt gerade, aber auch generell. Und sie lässt mich handlungsfähig bleiben, weil ich nicht so schnell verzage. Das versuche ich zu leben. So gut als möglich. Jetzt in dieser Krisenzeit, aber auch wenn keine Krisenzeit angesagt ist.
Stefanie Hinterleitner ist Pastoralassistentin in der Dompfarre Linz und Leiterin des Begegnungszentrums der Katholischen Jugend
1 Bregman, Rutger, Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen, Hamburg bei Reinbek 2019, S. 27.