Horizont erweitern
Wer mich kennt weiß: ich bin ein Bergfex! Mein selbstgewähltes Ziel, wenigstens einmal pro Monat einen Berg zu besteigen, ist mir eigentlich zu wenig – lieber wäre mir, bei jeder noch so kleinen Gelegenheit dieser Leidenschaft nachzugehen. „Viele Wege führen zu Gott. Einer geht über die Berge“, so ein Ausspruch des 2013 verstorbenen Innsbrucker Altbischofs Reinhold Stecher. Auf den Bergen fühlt man sich tatsächlich oft Gott ein Stück näher. Es ist wohl das Zusammenspiel von schönen Ausblicken, der Gemeinschaft mit lieben Menschen, einem für mich angenehmen Ausmaß an Anstrengung und dem damit verbundenen Gefühl, etwas geschafft zu haben, das mir immer wieder aufs Neue Kraft für den Alltag gibt.
Seit Mitte März habe ich nur sehr beschränkten Zugang zu dieser Kraftquelle. Wir wohnen im Flachland, auf ca. 300 Metern – die höchste Erhebung in unserem Ort geht mit 360 Metern auch nicht wirklich als Berg durch. Und zumindest in den ersten Wochen seit Beginn der Schutzmaßnahmen galt es auf Autofahrten, die nicht unbedingt erforderlich waren, zu verzichten.
In dieser Zeit habe ich gelernt, den Blick wieder vermehrt auf die kleinen und großen Wunder direkt vor der Haustür zu richten. Ich fing an, die Wege, die ich in meiner Kindheit und Jugend zig-fach gegangen und gefahren bin, wieder zu erkunden und auch meinen Kindern zu zeigen. Unsere Ausflüge waren bzw. sind geprägt von vielen Beobachtungen, die auch für meinen Lehrgang Natur- und Erlebnispädagogik sehr nützlich waren: „Märzfliegen“, die vor allem um den 25. April in großer Zahl herumschwirren, Segelfalter, Kiebitze und Bachstelzen, ein Igel, der uns im Garten besuchte, ja einige Male konnten wir ganze Sprünge von Rehen aus relativ geringer Entfernung beobachten, um nur einige Beispiele zu nennen.
Vielleicht hätte ich diese Entdeckungen auch ohne Corona gemacht, aber die Einschränkungen der sozialen Kontakte und die Mehr-Zeit, die ich dadurch mit meiner Familie verbringen konnte, wirkten sich hier auf jeden Fall positiv aus. Ich konnte meinen Horizont erweitern und fand eine alte, neue Kraftquelle, aus der ich auch dann schöpfen kann, wenn die Zeit oder andere Umstände keine Bergtour zulassen. Oder, um es mit Max Frisch auszudrücken: „Die Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“
Daniel Brunnmayr ist Beauftragter für Jugendpastoral im Dekanat Molln